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Obsessiver Stilist: Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert (1821- 1880)

© imago/Leemage

"Lehrjahre der Männlichkeit": Elisabeth Edls Neuübersetzung von Flauberts "Éducation sentimentale"

Verlorene Illusionen: Elisabeth Edls großartige Neuübersetzung von Flauberts Generationsroman „Éducation sentimentale“.

Es ist im Deutschen stets schwer gewesen, einen stimmigen, griffigen Titel für Gustav Flauberts 1869 veröffentlichten Großroman „Éducation sentimentale“ zu finden. 1904 das erste Mal ins Deutsche übersetzt, hieß er „Der Roman eines jungen Mannes“, der sich am Untertitel „Histoire d’ un jeune homme“ orientierte, 1915 dann „Die Schule der Empfindsamkeit“.

In den acht folgenden neuen Übersetzungen bis zum 2005 gab es schließlich noch fünf weitere Titel im Deutschen, zuletzt „Lehrjahre des Gefühls. Geschichte eines jungen Mannes.“

Das passt zum Murren, das es in Frankreich gab, als der Roman erschien. Flauberts Kritiker konnten schon mit dem Titel nichts anfangen, zumal dieser, wie Marcel Proust ein halbes Jahrhundert später in seinem Aufsatz über den Stil Flauberts konstatierte, „grammatisch gesehen kaum korrekt ist“, aber gerade wegen „seiner Festigkeit so schön“ sei.

Die Münchener Übersetzerin Elisabeth Edl hat sich nun entschieden, ihre Neuübertragung von Flauberts Roman (Hanser, München 2020. 800 Seiten, 42 €.) mit dem Titel „Die Lehrjahre der Männlichkeit“ zu versehen, mit dem Nachsatz „Geschichte einer Jugend“. Das klingt alles andere als „fest“ oder geschmeidig, weniger poetisch als die Vorgängertitel, und in einer Zeit mitunter erbitterter Genderdiskurse auch nicht besonders attraktiv.

Das beste in ihrem Leben war ein missglückter Bordellbesuch

Ihre Wahl leitet Edl aber in einem instruktiven Nachwort, das sich auf siebzig Seiten selbst wie ein Flaubert-Essay liest, nachvollziehbar her.

Flaubert wollte, wie er in einem Brief schrieb, „die moralische Geschichte der Männer meiner Generation schreiben; die sentimentale wäre richtiger“. Und weil er von Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ beeinflusst worden war, sich in dessen Romanumfeld wiederum Friedrich Schlegels Roman „Lucinde“ befand, in dem ein Teil mit „Lehrjahre der Männlichkeit“ überschrieben ist, entschloss Edl sich für eben diesen, ihrer Meinung nach durchaus ironisch zu verstehenden Titel.

Mit dem Verweis auf die so gänzlich ausbleibende Entwicklung der Hauptfigur Frédéric Moreau zu einem reifen, lebensweisen Mann: „Wenn das Männlichkeit sein soll...“, so Edl.

Nun erschließt sich diese Ironie des Titels nicht auf Anhieb, da braucht es die aufmerksame, passagenweise viel Geduld abverlangende Lektüre des Romans.

Aber allein das Ende vergisst niemand, der „Lehrjahre der Männlichkeit“ einmal gelesen hat: das desillusionierende Fazit, das Moreau und sein Freund Deslauriers ziehen, als sie sich eines verunglückten Bordellbesuchs in ihrer frühen Jugend als „das beste“ in ihrem Leben erinnern, ohne ihren verlorenen einstigen Illusionen groß nachzutrauern.

Ob es der so prägende Desillusionierungscharakter ist, der „Lehrjahre der Männlichkeit“ zu einem Lieblingsbuch beispielsweise von Kafka oder von Hugo von Hofmannsthal gemacht hat? Oder die Angst davor, sich in Flauberts Anti-Helden Frédéric Moreau zu erkennen? „Wann und wo ich es aufgeschlagen habe, hat es mich aufgeschreckt und völlig hingenommen“, schrieb Kafka.

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Und Hofmannsthal bezeichnete den Roman in seinem Vorwort zur ersten deutschen Übersetzung als „ein gefährliches Buch und ein heilsames“: „Diese Seiten können eine grenzenlose Entmutigung ausatmen und wieder lässt sich aus ihnen eine so unendliche Belehrung schöpfen“. Henry James dagegen fragte in einem Essay über Flaubert im Hinblick auf Moreau verzweifelt: „Warum, warum er?“

Tatsächlich tut sich entmutigend wenig im inneren Leben von Moreau von Anfang der 1840er Jahre an, da er während der Fahrt auf einem Seinedampfer von Paris in seinen Heimatort Nogent-sur-Seine die verheiratete Madame Arnoux kennenlernt und sich in sie verliebt.

Bis zu den Tagen vor Louis Napoléons Staatsstreich von 1851 und der Versteigerung des Mobiliars der Familie Arnoux, der der nun nicht mehr ganz junge Frédéric zufällig beiwohnt.

Viel mehr tut sich im Frankreich jener Zeit. In den dreißiger Jahren unter dem Bürgerkönig Louis-Philippe hatte es schon mehrere Aufstände gegeben, auch die Revolution von 1848 kündigte sich lange an. Obwohl viele seiner Freunde sich politisch betätigen, in diverse revolutionäre Aktivitäten involviert sind, wirkt Frédéric unentschlossen, desorientiert, unbeteiligt – trotz des Versuchs, Abgeordneter zu werden: „Frédéric, ein Mann mit allen Schwächen, ließ sich anstecken vom allgemeinen Wahn.“

Seine Pläne sind immer groß, er ist intelligent, aufgrund einer Erbschaft hat er Geld, das ihm einen bequemen Lebensstil erlaubt. Trotzdem kommt er über das Mittelmaß nie hinaus, erlahmt sein Ehrgeiz immer wieder schnell. Und obwohl er erfolgreiche Beziehungen zu anderen Frauen hat, zu Rosanette, zu Madame Dambreuse, (die beide im übrigen, Männlichkeit hin oder her, interessante, bisweilen selbstbewusste Frauenfiguren sind), obwohl in der Provinz eine junge Frau ihn heiraten möchte, bleibt er seiner unerfüllten, stets platonischen Liebe zu Madame Arnoux treu, bis zu ihrer allerletzten Begegnung 16 Jahre nach den Ereignissen 1851, da sie ihn zum Abschied auf die Stirn küsst, „wie eine Mutter“.

Frédéric Moreau ist ein prototypischer Slacker

Betrachtet man die Freunde und Bekannten im Umfeld von Frédéric, Deslauriers, Dussardier, Martinon, Hussonet, Sénécal, um nur einige zu nennen, bekommt Flauberts Generationsroman tatsächlich etwas Umfassendes, inklusive dubioser Figuren wie dem Kunsthändler Arnoux oder dem Finanzmakler Dambreuse.

Frédéric Moreau ist der Prototyp eines jungen Mannes, der alle Anlagen hat, dem es jedoch an Tatkraft fehlt; der scheitert, ohne dass er sich dieses Scheiterns bewusst wird. Das verleiht den Roman über seine Literarizität hinaus eine gewisse Gegenwärtigkeit; so mancher aufstrebende junge Mann in nachfolgenden Generationen, man denke nur an die Slacker der neunziger Jahre, dürfte im Nachhinein Wesenszüge von Frédéric in sich entdeckt haben.

Aber natürlich sind auch die großen Gemälde Flauberts beeindruckend: der Besuch Frédérics in der Porzellanmanufaktur von Arnoux auf dem Land in Creil beispielsweise; das Galopprennen auf dem Champ des Mars, das Duell zwischen Cisy und Frédéric („er verspürte etwas wie stolze Männlichkeit, einen Überfluss innerer Kräfte, die ihn berauschten“); oder die hinreißenden Beschreibungen des Ausflugs von Frédéric und Rosanette nach Fontainebleau.

Der Aufwand, den Flaubert betrieben hat, um die äußere historische Realität möglichst präzise zu erfassen, ist legendär; beispielsweise „die ganze Karrenladung sozialistischer Schriftsteller“, von der einmal die Rede ist: Die Bücher dieser Autoren hat Flaubert sich tatsächlich einverleibt, um dann ein paar Zeilen darüber zu schreiben.

Proust bezeichnete Flaubert als "Genie der Grammatik"

Dieser obsessiven Genauigkeit ist sein gesamter Stil verpflichtet, seine unterkühlte Prosa, die ohne Metaphern, ohne Schmock, ohne ausufernde Sätze auskommt und deren Ironie eine häufig trockene, manchmal kaum zu erkennende ist. Dazu kommt der eigenwillige grammatische Umgang mit Syntax, Zeiten, Pronomen, Konjunktionen und Adverbien.

Am begeistertsten zeigte sich Proust seinerzeit von Flauberts Zeitwechseln, die dieser seiner Meinung nach als erster „in Musik“ zu setzen verstand. Insbesondere vom Übergang des fünften in das sechste Kapitel am Ende von „Éducation sentimentale“, wo gleich Jahrzehnte zum Zeitmaß werden. („Er reiste.“ ... „Er kam zurück.“)

Doch merkt man den ganzen Roman über, wie Flaubert einerseits unwahrscheinlich schnell erzählt, wie abrupt die Szenerien wechseln und die Figuren ständig in Bewegung sind. Andererseits geht es auf eben jenen großartigen Tableaus außerhalb von Paris oder bei den gesellschaftlichen Großereignissen in der Stadt sehr in die Breite, da dehnt Flaubert die Zeit.

Elisabeth Edl hat sich der Genauigkeit und dem Rhythmus von Flauberts Prosa aufs Schönste angeschmiegt, von den nachgestellten Adverbien bis hin zu den manchmal nicht ganz leicht nachvollziehbaren Subjektwechseln in kurz aufeinanderfolgenden Sätzen. Ganz zu schweigen von ihrem großartigen Anmerkungsteil, der nicht nur politische Zeithintergründe liefert und eine Vielzahl realer historischer Figuren erklärt, sondern selbst eine Art Flaubert-Wörterbuch ist, eine Werkschau im Kleinen. Bleibt nur der Titel. Man fragt sich, warum Edl den letztendlich so schwer zu übersetzenden Originaltitel nicht einfach beibehalten hat.

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