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Kultur: Leben wie ein Held

Von der Liebe als Krüppel: „Zeitlupe“, der neue Roman des Literaturnobelpreisträgers J.M. Coetzee

Von Gregor Dotzauer

Was für ein Plot. Starr und grau hat J.M. Coetzee ihn vor den Eingang zu seinem neuen Roman gewälzt, als wollte er seinen Lesern zurufen: Ihr, die ihr es gewohnt seid, in Büchern um die Welt zu reisen und selbst bei mir auf ein Minimum an äußerer Bewegung hofft, ihr bleibt jetzt mal hübsch zu Hause, in der Matratzengruft eines alten Krüppels. Denn kurz gesagt, erzählt „Zeitlupe“ (Slow Man) von nichts anderem als einem Mann jenseits der Sechzig, der nach einem Radunfall das rechte Bein verliert und sich unglücklich in seine jüngere, verheiratete Krankenschwester verliebt. Und so trotzig Paul Rayment, ein nach Australien emigrierter Franzose, eine Prothese ablehnt, so wenig Anstalten macht Coetzee, seiner Geschichte eine erlösende Wendung zu geben.

Davon, denkt man, erholt sich der Roman nicht mehr: Lasst ihn humpeln und auf der Stelle treten! Und als hätte Coetzee nicht schon ein Hindernis zu viel vor sich aufgestellt, baut er gleich das nächste ein. Auf Seite 92 klingelt die Erzählerin des Romans, die Schriftstellerin Elizabeth Costello, an der Tür ihres Protagonisten und konfrontiert ihn mit dem ersten Satz des Romans, den wir auf Seite fünf schon einmal gelesen haben: „Der Stoß erwischt ihn rechts, heftig und unerwartet und schmerzhaft wie ein elektrischer Schlag, und schleudert ihn vom Fahrrad.“ Die angejahrte, mäßig gepflegte Dame, die schon Coetzees letztem Buch den Namen gab, ist eine aufdringliche dea ex machina, deren göttliche Anwandlungen so irdisch enden, dass sie Rayment ihre Liebe anträgt, weil es doch vernünftig sein könnte, wenn zwei alte Esel wie sie sich zusammentun. Und als wäre auch das noch nicht genug, arrangiert Elizabeth Costello für ihren sexuell ausgehungerten Helden eine ausführlich geschilderte Begegnung mit einer sexuell ausgehungerten Frau, die das Waghalsigste darstellt, das dieses Buch sich aufladen kann: Der Lahme geht mit einer Blinden ins Bett.

„Zeitlupe“ trägt also schwer an einem Invaliden-Malus, dem Gewicht einer Metafiktion und der Bürde einer mythischen Konstellation, die kein Schriftsteller (auch nicht Christian Fürchtegott Gellert in seinem berühmten Gedicht über den Blinden und den Lahmen) so körpernah ausbuchstabiert hat. Jeder Leser hat deshalb das Recht, sich für die Probleme ambulanter Krankenpflege und deren erotische Implikationen nicht zu interessieren – selbst wenn ein Literaturnobelpreisträger wie der seit einigen Jahren in Australien lebende Südafrikaner J.M. Coetzee sich ihrer annimmt. Das Wunder, das er vollbringt, besteht aber darin, dass er all diese Lasten abwirft und in der ihm eigenen kristallklaren Sprache mit dem Präsens als Markenzeichen sich aus jeder szenischen Schlinge windet, ohne die Voraussetzungen zu ändern. Coetzee wendet jedes realistische Detail ins Allegorische, und er denkt nicht daran, seinen Lesern etwa das Jucken des Beinstumpfs zu ersparen, den Rayment le jambon – Schinken – getauft hat.

In diesem auf den ersten Blick kleinen Stoff ist tatsächlich alles enthalten, was so genannte größere Stoffe ausmacht: das unverdiente Glück eines gesunden Körpers und das unverdiente Pech seiner Beschädigung; der nicht rückgängig zu machende Moment, der ein Leben zerreißt; die Nackenschläge des Älterwerdens, die hier in einem großen Blitz gebündelt werden; eine göttliche Vorsehung, gegen die es sich aufzulehnen gilt; oder die Unwahrscheinlichkeit einer Liebe, die eben nicht auf den Tauschprinzipien gleichberechtigter Partner beruhen kann, sondern Zuflucht beim reinen Gefühl suchen muss. Und worauf sollte das gebaut sein? „Erschlafft. Dieses Wort kommt aus Homer zu ihm. Der Speer zersplittert das Brustbein, Blut spritzt, die Glieder erschlaffen, der Körper fällt wie eine Marionette in sich zusammen.“ Doch es braucht, wie Elizabeth Costello weiß, keinen epischen Atem, um einem Stoff Größe zu verleihen. „Werden Sie wesentlich“, fordert sie Paul auf. „Leben Sie wie ein Held. Das lehren uns die Klassiker. Seien Sie eine Hauptfigur. Wozu sonst leben?“ Und sie hält ihm Flauberts Emma Bovary und den Don Quijote von Cervantes vor, um ihn aus seiner im aussichtslosen Sehnen nach seiner „mystischen Braut“, der kroatischen Krankenschwester Marijana Jokic, stecken gebliebener Leidenschaftslosigkeit zu reißen: „Damit irgendjemand, irgendwo Sie in einem Buch verwenden könnte. Damit Sie es wert wären, in einem Buch verwendet zu werden.“

Man kann das als billige Lebenshilfe abtun. Doch es wird zum einen von der wenig heldenhaften Figur gebrochen, die es ausspricht, jener halbrealen „Sekretärin des Unsichtbaren“, als die sie sich in einer der „acht Lehrstücke“ des letzten Buchs bezeichnete: einer Frau, die selber allein in der Literatur wesentlich wird. Zum anderen braucht es die Literatur als Bezugsgröße, um die Schranken zum Leben gleich wieder einzureißen: als Mahnung, dass man keine Geschichte hat, solange man sie sich nicht erzählt – und als Erinnerung daran, dass literarische Gestalten, wie es der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom für Shakespeare reklamiert hat, ursprünglicher sind als die Menschen, die sich in ihnen spiegeln: „Es leben uns Kräfte, deren wir nicht Herr werden, und es lesen uns Werke, denen wir nichts entgegenzusetzen haben.“

Coetzee, mittlerweile 65 Jahre alt, hat sich schon in jüngeren Jahren oft mit drei großen A’s beschäftigt: age, agony und animals – mit Alter, Leid und Tieren, vor allem Hunden, sei es in seinem Welterfolg „Schande“ oder dem nicht minder packenden Roman „Eiserne Zeit“ – Versuchen, der Gewalt in Südafrika jenseits alles unmittelbar Politischen auf den Grund zu gehen. Wer in „Zeitlupe“ das Elend der Kreatur sucht, muss den Blick nur auf die Hauptfigur richten. Paul Rayment ist, wie es einmal heißt, der canis infelix des Buches: „Wenn du bisher ein Mensch gewesen bist, mit einem Menschenleben, so sei von nun an ein Hund, mit einem Hundeleben.“ Und so erlebt Rayment seine kopernikanische Wende: „Es gibt eine zweite Welt, die ungeahnt neben der ersten existiert. Man bewegt sich eine gewisse Zeit lang in der ersten; dann kommt der Todesengel. Für einen Augenblick, für ein Äon, setzt die Zeit aus. Dann, hoppla, kommt man in einer zweiten Welt heraus, die identisch mit der ersten ist – nur dass man jetzt Elizabeth Costello am Hals hat, oder jemanden wie sie.“

Gewiss steckt, im Blick auf Coetzees eigenes Alter, seine Passion fürs Fahrradfahren und sein Leben im Exil von Adelaide, ein Moment Selbststilisierung in der Figur des Fotografiesammlers Paul Rayment. Mehr noch aber spürt man, wie Coetzee hier mit vertrauten Motiven seinen Kosmos arrondiert: ein Stück heimlicher Eitelkeit, aber eben auch die Gelegenheit, Fenster zu anderen seiner Werke aufzustoßen, die den Anspielungsreichtum dieses Romans noch erhöhen. „Zeitlupe“ agiert auf so vielen Ebenen gleichzeitig, dass die Verlangsamung des Geschehens an der Oberfläche mit einer Beschleunigung der subkutanen Verkettungen einhergeht. Das beginnt schon bei den etymologischen Erwägungen, denen Rayments Name ausgesetzt wird: Hat er nun eher mit dem französischen vraiment oder dem englischen payment zu tun? Ist Rayment, der „bei den guten Schwestern von Lourdes“ aufgewachsen ist und den himmlischen Auftrag zur Fruchtbarkeit mit seiner Kinderlosigkeit zurückgewiesen hat, ein Sünder, dessen Zahltag gekommen ist?. „Sie müssen sich ans Bezahlen gewöhnen“, erklärt ihm jedenfalls für ein ganz anderes Gebiet Elizabeth Costello: „Keine freie Liebe mehr.“

Mit solchen Themen entwirft „Zeitlupe“ (wie auch „Schande“) ganz unbeabsichtigt Antworten auf die merkantilen Körperwelten von Michel Houellebecq – nur dass Coetzee humanistische Lösungen sucht und dennoch Rayments absurde Anstrengungen, als Ersatzvater für Marijanas Sohn Drago die Zuneigung der Mutter zu gewinnen, mit einem maliziösen Lächeln verfolgt. Es ist, trotz allem, ein Lächeln der Liebe.

J. M. Coetzee: Zeitlupe. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 303 Seiten, 18,90 €.

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