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Kultur: Lasst tausend bunte Verse blühen

Anarchie und Ordnung: Zwei Anthologien versammeln die jüngste deutsche Lyrik

Wie steht es um die deutschsprachige Lyrik der Gegenwart? Dass sie die derzeit spannendste Gattung ist, pfeifen die Spatzen von den Dächern, doch weiß man auch, dass die Leserschar für Lyrik nicht gerade groß ist. Zwei neue Lyrik-Anthologien stellen sich dieser Herausforderung auf ganz unterschiedliche Weise. Wie jede Anthologie müssen auch sie zwei widerstrebende Tendenzen in Einklang bringen. Denn der Leser will einerseits Entdeckungen machen, andererseits aber auch einen Kanon präsentiert bekommen. Der muss zwar nicht allgemeingültig sein, wohl aber die Auswahl rechtfertigen und auch die Art der Zusammenstellung.

Je zwei ausgewiesene Lyrikspezialisten haben sich zu Herausgeber-Duos zusammengetan. Der Literaturkritiker Michael Braun und der Autor und Übersetzer Hans Thill verantworten im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn einen Band mit dem programmatischen Titel „Lied aus reinem Nichts“. Er versammelt „Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts“, nimmt also eine willkürliche Zäsur zum Anlass, die „ästhetisch wagemutigsten Schreibverfahren und substantiellsten und eindringlichsten Versuche lyrischen Sprechens“ vorzuführen, wie es recht vage heißt.

Das einzelne Gedicht steht hier im Zentrum. Gruppiert werden die Gedichte nach poetischen Schwerpunktsetzungen, die den Titel eines Gedichts zur Überschrift des jeweiligen Kapitels erheben: „Fenster zur Weltnacht“, „Kleines Rasenstück“, „Fast eine Romanze“ beispielsweise. Die hierarchiefreie Kommunikation von Motiven und Sprechweisen ist das erklärte Ziel dieser Sammlung, deren muntere Anarchie den Leser dazu einlädt, wie ein schnüffelnder Hund durch die Verse zu streunen.

Ganz anders der Sammelband des Schriftstellers Michael Lentz und des Literaturwissenschaftlers Michael Opitz. „In diesem Land“ nimmt bewusst auf zwei berühmte Lyrikanthologien Bezug. Die eine erschien 1966 unter dem Titel „In diesem besseren Land“ in der DDR, die andere zwölf Jahre später in der Bundesrepublik. Sie hieß „In diesem Lande leben wir“.

„In diesem Land“ versammelt deutsche Gedichte aus den Jahren 1990–2010, nimmt also die politische Zäsur der Wiedervereinigung zum Anlass einer ersten Zusammenschau gesamtdeutscher Lyrik. Es dürfte nicht jedem behagen, dass damit schweizerische und österreichische Lyriker ausgeschlossen werden, was besonders im Fall der letzteren schmerzlich ist (man denke nur an Friederike Mayröcker und Ernst Jandl). Und doch ist es ein einleuchtendes Verfahren, das mit Chauvinismus wenig zu tun hat, wohl aber mit der stringenten Fragestellung: Wie reagieren Lyriker auf das Land, in dem sie leben?

In alphabetischer Reihenfolge präsentieren sie je vier Gedichte von insgesamt 101 Autoren, darunter rund ein Fünftel Frauen. So werden Werkzusammenhänge in nuce sichtbar, was ausgesprochen anregend ist. Denn selbst Freunde der Dichtkunst werden nicht von jedem Autor einen Band im Regal haben. Dass es sich bei vielen aber lohnen würde, auch wenn der ein oder andere dabei ist, über dessen Qualität man streiten kann, zeigt diese Anthologie eindrucksvoll. Sie führt vor Augen, wie reich dieses Land an hervorragenden Lyrikern ist, und zwar quer durch alle Altersklassen.

Ist man gelegentlich versucht, dem Klischee recht zu geben, die DDR habe die eigensinnigeren Dichter hervorgebracht, von Volker Braun über Wolfgang Hilbig bis hin zu Kathrin Schmidt, so muss man sich korrigieren, sobald man Lyriker gleichen Ranges aus dem Westen dagegenhält: etwa Jürgen Becker, Thomas Kling oder Peter Rühmkorf. Eines aber fällt nach wie vor auf: dass die in der DDR sozialisierten Autoren ernster zu Werke gehen, dass ihnen Mythos und Tradition mehr bedeuten und auch der Bezug zum Allgemeinen. Spielgeist und Heiterkeit, Selbstironie und avantgardistische Schreibweisen findet man seltener. Und doch gab es eben auch einen Adolf Endler oder Carlfriedrich Claus.

Welcher der beiden Anthologien man den Vorzug gibt, der streng konzipierten Sammlung des S. Fischer Verlags, die den Werkzusammenhang und die Autorenpersönlichkeit in den Fokus rückt, oder der auf die Überzeugungskraft des einzelnen Gedichts setzenden Blütenlese von Wunderhorn, ist eine Frage des Erkenntnisinteresses.

Viele Lyriker sind in beiden Bänden vertreten, darunter auch die wichtigsten Namen der jüngeren Generation, von Monika Rinck und Marion Poschmann bis Jan Wagner, Ron Winkler, Uljana Wolf und Steffen Popp. Eine unbekannte Autorin wie die mit einem schnoddrig klugen Alltagsgedicht vertretene Claudia Gabler kann man nur bei Michael Braun und Hans Thill entdecken.

Dafür bewährt sich in der Anthologie von Lentz und Opitz die Lyrik als jene Gattung, mit der man Stimmungen am besten einfangen kann, nicht zuletzt politische Stimmungslagen. Von den Verwerfungen des Vereinigungsprozesses bis zur ersten Lyrikergeneration, die sich selbst nicht mehr dem Westen oder Osten zuordnet, sind zwanzig Jahre vergangen. „In diesem Land“ ist eine aufregende Mentalitätsgeschichte deutscher Befindlichkeiten, an der gerade der subjektive Blick fasziniert. Die meisten Gedichte beziehen sich gar nicht explizit auf Deutschland, und doch wird in der Art, wie jeder Autor sein eigenes lyrisches Idiom ausbildet, seine Haltung kenntlich.

Im Juni 2000 schrieb Thomas Brasch: „Zersprungenes enges Land ganz wie aus Glas /warst du und ganz aus Glas bin ich/vereinigt wer die Welt; geteilt war sie mein Maß/jetzt ist sie hin WOHIN o Schreck und lächerlich.“

Michael Braun/Hans Thill (Hg.): Lied aus reinem Nichts. Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2010. 246 Seiten, 26,80 €.

Michael Lentz/Michael Opitz (Hg.): In diesem Land. Gedichte aus den Jahren 1990–2010. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010. 637 Seiten, 18 €.

Meike Feßmann

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