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Mathias Modica, 44, betrieb in München das Label Gomma. In Berlin gründete er Toy Tronics und Kryptox.

© David Bornscheuer

Labelmacher Mathias Modica: „In Berlin wird die wildeste Musik gespielt“

Mathias Modica war lange als Electro-DJ unterwegs. Nun hat er eine neue Liebe gefunden: den Jazz. Ein Gespräch über die Gegensätze dieser Musik und die spannende Szene in Berlin.

Herr Modica, Sie haben lange als DJ und Produzent von elektronischer Musik gearbeitet. Aber in Berlin, wohin Sie vor sechs Jahren gezogen sind, interessieren Sie sich mehr für den Jazz der Stadt als für deren Partykultur. Würden Sie sagen: Techno ist nicht tot, er riecht nur ein wenig komisch?
Techno ging los Anfang der Neunziger in irgendwelchen Bunkern. Ich hab das damals als Schüler mitbekommen und fand es wahnsinnig cool, weil es so radikal war. Dreißig Jahre später ist er zu einem weltweiten Riesenphänomen geworden. Das Neueste, was gerade passiert in London, Los Angeles und Berlin ist die Rückkehr des Jazz in verschiedensten neuen Formen.

Während damals nur der Freak in der Schulklasse auf die obskuren Raves gegangen ist, geht jetzt der brave Rest der Schulklasse dorthin, inklusive der Lehrer. Und der Freak stattdessen auf Konzerte von neuen Jazzbands. Das klingt jetzt plakativ, aber wenn man in kleine Berliner Jazzclubs wie das Donau 115 oder das Sowieso geht, ist es genau so. Wenn diese Clubs nicht gerade pandemiebedingt geschlossen haben, sind da lauter 25-Jährige im Publikum. Diese Szene hat überhaupt nichts mehr zu tun mit dem alten Jazz. Auf Konzerte dort gehen nicht mehr unsere Großväter mit roten Hornbrillen, sondern junge Leute mit trendy Klamotten.

Sie betrieben mit Gomma von München aus ein Label, das in den nuller Jahren weltweit als irre hip galt und Sie selbst waren als Munk mit ihrer Musik von London bis Tokio angesagt. Wo Mathias Modica war, da war immer vorne. Und Sie verkünden nun: Techno war gestern, Jazz ist heute.
Es macht doch total Sinn, dass es nun diese Gegenbewegung gibt. Es ist rein menschlich und in der Popkultur immer schon so gewesen: Wenn ein Thema riesig wird, dann gibt es bald genug junge Leute, die etwas anderes suchen. Oft ist es das Gegenteil zum bestehenden Riesigen.

Und was ist das Gegenteil vom DJ-Produzenten, der alleine zuhause an seinem Laptop sitzt und seine Tracks schraubt? Eine Gruppe von Musikern, die sich in einem Raum trifft und zusammen Musik macht. Jazz entsteht nur im gemeinsamen Spiel, in einem Miteinander. Im Jahr 2021 finde ich diesen Ansatz ziemlich zeitgemäß. Es geht um Inklusivität und das ist gerade doch sowieso überall ein großes Thema.

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Wie haben Sie überhaupt zum Jazz gefunden?
Ich komme eigentlich sogar vom Jazz. Ich habe Klavier bei einem unglaublichen Jazzpianisten studiert, aber nach zwei Jahren war mir klar: Auf diesem Niveau kriege ich das nie hin. Ich habe dann mein Studium abgebrochen und mich komplett auf das Nachtleben und das Produzieren von neuen Formen von elektronischer Dancemusic mit meinem Label Gomma konzentriert.

Ganz ursprünglich komme ich aber aus einem extrem E-musikalischen Haushalt, wo nur Musik gehört wurde, die für 99 Prozent der Menschen unhörbar ist, wo nicht gelacht wird bei der Musik. Wo es hieß, Musik, die nicht 16 verschiedene Tonarten durchläuft, unterfordere das Gehirn.

Bei Ihnen zu Hause lief dann Stockhausen und so was?
Noch viel härtere Musik. Stockhausen ist ein Entertainer. Eher so Sachen wie Luigi Nono, der aber auch einer meiner Lieblingskomponisten geworden ist.

Den hören Sie aber nicht zum Frühstück.
Ich habe in meiner Wohnung eine Terrasse. Und ich liebe es, meine Nachbarn in voller Lautstärke mit Nono zu beschallen. Ein bisschen „Punkrock“ muss noch erlaubt sein in Neukölln.

„Krautjazz“ nennen Sie die Art von Musik, die Sie auf bisher zwei Samplern Ihres Labels Kryptox anbieten. Mit klassischem Jazz haben diese Alben nichts zu tun.
Die Musik, die ich herausbringe, geht vom Begriff Jazz aus, den dann aber jeder für sich selbst interpretieren kann, denn es gibt für den Jazz sowieso keine Definition, die allgemeingültig ist. Der Jazzmusiker, der bei uns landet, hat sich aber wahrscheinlich auch mal mit elektronischer Musik befasst. Zu uns kommt nicht der klassische Jazzer, der so spielen will wie Charlie Parker und der in Hamburg an der Hochschule Tonleitern übt.

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Es geht nicht darum, Epigonen zu schaffen und alte Jazzstilrichtungen zu reaktivieren und zu zeigen, wer der schnellste Saxofonist ist. Das ist schon lange langweilig. Ich will Leute, die wissen, wie man interessante Chord Progressions schreibt und die auf hohem Niveau „richtige“ Instrumente spielen können, die Jazz für sich adaptieren und ins Heute transportieren. Die eine musikalische Sprache zwischen Hip-Hop und Free Jazz oder zwischen Neoklassik und Bebop finden und nach Jetzt klingen.

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Wie kommen Sie auf alle Ihre Acts, die wirklich erstaunlich frisch klingen?
Viele habe ich ganz einfach über Freunde, Gleichgesinnte oder Bandcamp gefunden. Ich höre dort interessante Musik von Marokkanern, Persern, Franzosen. Dann schau ich nach, wo die wohnen: Ah, in Berlin. Dann stöbere ich weiter bei deren Freunden: Ah, die wohnen auch in Berlin. Es gibt hier viele kleine Universen an Musikern.

Jeden Tag bekomme ich außerdem die unglaublichsten Bewerbungen von Leuten aus Berlin rein, die aus den wildesten Ländern kommen, in den wildesten Besetzungen spielen und die die wildeste Musik machen. Ich könnte praktisch jeden zweiten Tag eine Platte raushauen, von der ich überzeugt wäre. Das ist übertrieben – aber nur ein bisschen.

Warum ist gerade Berlin der Schmelztiegel, der diese wilde Musik hervorbringt?
Jazz hat das Problem, dass in dieser Szene nur wenig Geld im Umlauf ist. Darum gibt es immer bestimmte Städte, auf die er sich konzentriert. Jahrelang war das Amsterdam, wegen dem freien Spirit dort. Und seit einer Weile ist es eben immer mehr Berlin, wo Musik zwischen allen Stühlen gemacht wird, die man Jazz nennen könnte. Aus den bekannten Gründen, wozu die immer noch vergleichsweise geringen Lebenshaltungskosten gehören.

Und bald wird es heißen: Jazzstadt Berlin und nicht mehr Technostadt Berlin?
Noch gehen der Jazz und andere Formen von neuer Musik hier ein wenig unter, wegen Berlins internationalem Ruf als Technostadt. Es ist ähnlich wie in München. Egal, was du in München kulturell machst: der FC Bayern und das Oktoberfest überschatten alles, Obwohl München beispielsweise eine der innovativsten Technik- und Designstädte der Welt geworden ist. Und Berlin ist keine monokulturelle sondern eine extrem vielfältige und innovative Musikstadt. In drei bis fünf Jahren, das prognostiziere ich, gilt Berlin international als die Musikstadt schlechthin und Techno reiht sich da irgendwo mit ein.

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