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Es lebe der Tod! Francesco Di Napoli (links) als Nicola und seine Jugendgang in Claudio Giovannesis „La paranza dei bambini“.

© Palomar

„La paranza dei bambini“ im Berlinale-Wettbewerb: Wenn Kinder zu Tätern werden

Die Mafia als Thema auf der Berlinale: Claudio Giovannesis „La paranza dei bambini“ im Wettbewerb und Kim Longinottos „Shooting the Mafia“ im Panorama.

Als die in Palermo geborene Fotoreporterin Letizia Battaglia nach unzähligen erschossenen oder sonstwie massakrierten Opfern zum ersten Mal ein hingerichtetes Kind, einen Jungen in seinem Blut am Straßenrand, mitten in einer sizilianischen Stadt vor der Kamera hatte, da war das Ende der 70er Jahre ein Einschnitt.

Die heute 83-jährige vitale Dame mit dem rötlich gefärbten Haar ist in Italien als erste Mafia-Fotografin, ja überhaupt als erste Frau im ReportageJournalismus des Landes eine lebende Legende. Angesichts der Gefahr, in die sie sich begeben hat, indem sie den Morden der Cosa Nostra, ihren Opfern und später auch Tätern immer wieder ein Gesicht gab, kann man sie durchaus eine überlebende Legende nennen. Und in Kim Longinottos eindrucksvollem Porträt der Fotografin, das den doppelsinnigen Titel „Shooting the Mafia“ trägt (im Panorama) sagt Battaglia – auch ihr Name ist sprechend, das Wort bedeutet Schlacht: „Ich würde meine Bilder manchmal am liebsten verbrennen.“ Dieser Wunsch kam auf, als sie den ermordeten Jungen sah und als Fotografin doch nicht wegsehen konnte.

Zum eigenen Ehrenkodex der selbsternannten „Ehrenwerten Gesellschaft“ gehörte lange Zeit: keine Frauen, keine Kinder. Sie waren für die Killer tabu. Doch in den wüsten Mafiakriegen gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts, die in den Bombenattentaten auf den Richter Giovanni Falcone und den Staatsanwalt Paolo Borsellino (zwei Freunde Letizia Battaglias) gipfelten, war das Tabu längst gefallen.

„Gomorrha“-Autor Saviano schrieb das Drehbuch

Kinder sind mittlerweile auch Täter. Sind Täteropfer, Opfertäter. Laut jüngsten UN-Berichten gibt es weltweit etwa 250 000 Kindersoldaten, missbraucht in Kriegen und Aufständen. Um ein Stadtviertel mitten in Neapel mafios zu beherrschen, braucht es freilich kaum fünfzehn Jugendliche. Wenn sie zur Unterstützung nur an ein paar schwere Waffen kommen, von der einfachen Beretta bis zur Maschinenpistole. Das hat Roberto Saviano in seinem 2016 in Italien und vor einem Jahr auf Deutsch unterm Titel „Der Clan der Kinder“ veröffentlichten Doku-Roman beschrieben. Jetzt stammt von ihm, dem auch auf der Berlinale unter Polizeischutz erschienenen „Gomorrha“-Autor aus Neapel, das Drehbuch zur Romanverfilmung „La paranza dei bambini“ (im Wettbewerb).

Saviano und der am Script beteiligte 40-jährige römische Regisseur und Musiker Claudio Giovannesi haben den über 400 Seiten starken Roman klug konzentriert: auf einige Schlüsselszenen, die den Weg des 15-jährigen Nicola vom Anführer einer anfangs eher harmlosen Kindergang zum drogendealenden Boss eines Jugendclans markieren. Eine legale Arbeit findet er nicht, will seine alleinerziehende, in einer Wäscherei arbeitende Mutter jedoch von der Schutzgelderpressung des im neapaolitanischen Altstadtviertel Sanità gerade dominanten Camorra-Clans befreien und seiner schon an zweifelhaften Schönheitswettbewerben teilnehmenden Freundin Letizia mit Markenklamotten und Parfüms imponieren.

„Shooting the Mafia“. Ein Bild der Fotografin Letizia Battaglia.
„Shooting the Mafia“. Ein Bild der Fotografin Letizia Battaglia.

© Letizia Battaglia/Lunar Picutres

Anders als in der grandiosen „Gomorrha“-Verfilmung durch Matteo Garrone 2008 überfällt einen Claudio Giovannesi nicht mit einem Bilderwirbel des Infernos. Die Unterwelt Neapels ist hier, trotz der einmal mehr als Waffenlager und Schießübungsstätte genutzten Höhlen in den Berghängen der Stadt, keine Höllenwelt. Man folgt der Jungenhorde auf ihren Mopeds und Vespas durch die engen, pittoresken neapolitanischen Gassen hin zu den Mafiosi-Wohnungen oder Stadtrandvillen in die kleinbürgerlichen Milieus der in Trainingshose und Unterhemd vorm Fernseher dämmernden älteren Capos, ihrer Matronen und Kinderscharen.

Wären da nicht die grotesk überladenen Kronleuchter, die Goldputten, Goldornamente von der Küche bis zum Klo und die Hosentaschen immer voll großer Euroscheine, man würde sich auch materiell im Herzen des so genannten einfachen Volkes glauben. Nur bei den Festen fließt plötzlich Champagner, sind Drogen, Korruption, Sex und Machogewalt allgegenwärtig.

Der Film ist ein Bären-Kandidat

Kaum Düsternis. Allenfalls brennt auf Hinterhöfen ein aus der vornehmen Galleria Umberto der Innenstadt geklauter Christbaum oder ein paar nächtliche, vermutlich illegale Feuerwerksraketen übertönen die Schüsse, wenn Nicola und seine Freunde ihre Knarren auf einem schäbigen Hausdach ausprobieren, mit den TV-Schüsseln als Zielscheiben.

Der Sog, den Giovannesis Film unter dem originalen Saviano-Buchtitel entfacht, liegt allein im Zusammenwirken der jungen Laiendarsteller und ihrer auch für Italiener nur mit Untertiteln verständlichen, selbst bei verbalen Härten noch gaumig weichen neapolitanischen Sprache. So wird ein Dialekt wie in „Gomorrha“ zur Weltsprache. Denn was in Neapels Altstadt im Kleinen geschieht, ist als Abbild von Verführung, Gier, falschen Vorbildern, versagendem Staat ein Sinnbild des universellen Organisierten Verbrechens. Und das spielt der junge Francesco di Napoli als Protagonist Nicola auf suggestive Weise. Es macht den Film zu einem Bären-Kandidaten.

In seinem Engelsgesicht ist noch das Entsetzen über den ersten eigenen Mord fast nur ein Erstaunen. Bei ihm mischen sich Kindlichkeit und jungenhafte Brutalität wie auch Zärtlichkeit (gegenüber der Mutter, der Freundin, dem kleinen Bruder), Familiensinn, Frömmigkeit und Aberglaube, die Freude an der Macht und eine schwebende Melancholie. Als wisse er schon, dieses schnelle junge Leben hat keine dauerhafte Hoffnung. „La paranza“ ist ein Fischernetz, aber das Netz hat sich auch über die Kindertäter gelegt. Sie sind Jäger und Beute oder wie Saviano sagt, schuldig unschuldig.

„La paranza dei bambini“: 13.2., 12 Uhr (Friedrichstadtpalast) u. 22.30 Uhr (International), 17.2., 16.15 Uhr (Friedrichstadtpalast). Regisseur und Hauptdarsteller diskutieren Mi, 19 Uhr, im Italienischen Kulturinstitut. Eintritt frei.

„Shooting the Mafia“: 13.2., 17 Uhr (Cinestar 7), 14.2., 22.30 Uhr (Cinestar 7), 15.2., 17.30 Uhr (Cubix 7), 16.2., 14.30 Uhr (Colosseum 1)

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