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Die ganze Gegend erzählen, auf tausend Seiten. Der 68-jährige Schriftsteller Peter Kurzeck. Foto: Jürgen Bauer/Ullstein-Bild

© ullstein bild - Jürgen Bauer

Kurzeck-Roman "Vorabend": Vom Leiden der Igel

Alles sehen und für immer behalten: Peter Kurzecks monumentales Erinnerungsepos „Vorabend“

Es gibt Momente im Leben des Schriftstellers Peter Kurzeck, da glaubt er, sich zu viel aufgeladen zu haben, mit seinen Büchern, dem Schreiben. Und besonders mit dem Vorhaben, „die ganze Gegend, die Zeit“ zu erzählen, wie das Motto seines jüngsten Werks „Vorabend“ heißt. Dann flüchtet er sich in Fragen: „Wie soll man das alles aufschreiben? Alles gleichzeitig?“. Oder: „Wie soll man die Zeit erzählen?“ Oder: „Geht das: So erzählen, dass die Zeit stehen bleibt?“

Antworten hat Kurzeck nicht immer. Die Zweifel zerstreut er, indem er sich antreibt: „Schreib weiter!“ „Schreib schneller!“ Oder: „Nur weiter. Sowieso keine Wahl.“ So kommt es, dass „Vorabend“ nicht 300 oder 400 Seiten zählt, sondern über tausend. Damit nicht genug: „Vorabend“ ist der fünfte Teil einer auf zwölf Bände angelegten autobiografisch-poetischen Chronik, die 1997 mit „Übers Eis“ begann. Darin verarbeitet Kurzeck die Trennung von seiner Freundin Sibylle im Jahr 1984, mit der er eine Tochter hat, Carina. Die Tatsache, von „einem auf den anderen Tag nix mehr“ zu haben, ist der Auslöser für diese tour de force der Erinnerung. Für ein Erzählprojekt, das kreuz und quer vom Leben und Schreiben des in Frankfurt und Südfrankreich lebenden 68-jährigen Schriftstellers handelt und seine Verankerung in der Kindheit Kurzecks im oberhessischen Staufenberg hat.

Kurzeck geht es um nichts weniger als die Aufhebung der Zeit. Er erzählt nicht chronologisch, sondern in die Breite. Er versucht, Augenblicke und selbst unbedeutendste Lebensäußerungen vor dem Verschwinden zu bewahren. Er will „alles sehen und für immer behalten“. KurzeckLesern ist vieles bekannt, was in „Vorabend“ erzählt wird, aus den anderen Bänden der Chronik, den früheren Romanen. Kurzeck schreibt überhaupt an nur einem Roman: dem seines Lebens, seiner Zeit, seiner Gegend.

So man von einer Handlung sprechen kann – es ist mehr die von Kurzeck vielfach vorgenommene, dem Leser als Verschnaufpause dienende Kennzeichnung der Erzählsituation –, setzt sie in „Vorabend“ an einem Oktober-Wochenende 1982 ein. Der Erzähler, Kurzeck selbst, ist mit Sibylle und Carina zu Besuch bei Jürgen und Pascale in Frankfurt-Eschersheim, bevor das Paar nach Frankreich zieht: „Nur noch ein oder zwei Samstage in Eschersheim und dann sind sie weg, Jürgen und Pascale. War es dieses vorletzte letzte Wochenende, dass ich von dem Wintersonntag anfing und von Oberhessen? Oder vorher schon und muss dann immer weiter, muss durch das Jahr all die Jahre, muss die ganze Gegend erzählen und alles, was nicht mehr da ist.“

Es braucht etwas, bis er, Sibylle und Carina in Eschersheim ankommen. Kurzeck muss noch erzählen, was für Wege er mit Carina sonst so zurücklegt. Oder wie weit die Wege nach Eschersheim sein können, weil Erinnerungen aufsteigen: an die Ereignisse der letzten Monate oder an Staufenberg, jenes Dorf, in das Kurzeck 1946 als dreijähriges böhmisches Flüchtlingskind kam, mit der Mutter und der älteren Schwester.

Nach rund 100, für Kurzeck-Einsteiger recht hilfreichen Seiten aber gibt es kein Halten mehr: Die Erinnerung an die fünfziger bis siebziger Jahre bricht sich vollends Bahn, beginnend mit der Situation der Filmtheater in Lollar, einer kleinen Stadt nahe Staufenberg. Lollar wird das geografische Zentrum der nächsten 500, 600 Seiten. Kurzeck erzählt, wie die Stadt sich verändert. Wie die Durchgangsstraße immer verkehrsreicher wird, wie mehr und mehr Einkaufszentren, Umgehungsstraßen und Neubauviertel die Natur verdrängen.

Diese Entwicklung führt Kurzeck nachdrücklich am Beispiel der Igel vor. Auf über 50 Seiten treten sie als leidende, ihren Lebensraum verlierende Hauptfiguren auf: „Die Igel begreifen es nicht! Wie um sie her alles wegverschwindet. Nix bleibt. Haben keinen Ort. Finden kaum noch Futter. Und auch keine Ruhe mehr. Abgase. Rußwolken, Blei. Und dazu noch das Gift, das die Bauern spritzen.“ Folgt der Schwager, der im Buderus-Eisenwerk malocht, wie so viele in Lollar und Umgebung. Hinreißend porträtiert Kurzeck diesen Mann, seine Eigenheiten und Träume. Vom Schwager kommt er irgendwann auf die Menschen an sich, auf ihren Modernisierungs- und Konsumdrang. Von ihnen erzählt er in der dritten Person Plural, in der Man-Form oder sie sind „der Mann“, „die Frau“, „der Chef“, „die Witwen“.

Das ist dann manchmal auch quälend. Wie überhaupt die ständigen Wiederholungen die Lektüre nicht leichter machen: das Gehen der immer gleichen Wege, das mantrahafte Beschreiben Lollars, die vielen Besuche in den Einkaufscentern, das Aufzählen der Waren und wann diese günstig zu erwerben sind, angezeigt von den täglich in Zeitungen oder im Briefkasten liegenden Prospekten.

Die repetitiven Muster gehören zum Kurzeck-Sound wie die kurzen, elliptischen Sätze, die Aufzählungen, die Fragen. Das Prinzip der Wiederholung ist zudem fester Bestandteil von Kurzecks Poetologie. Lässt sich die Zeit doch so vielleicht am besten erzählen, lässt sie sich besser verlangsamen, beschleunigen, in die Breite ziehen – und ihr ständiges Zucken und Zerren, wie Kurzeck es oft an sich zu spüren meint, besser ertragen.

Vor dem Schreiben steht jedoch das mündliche Erzählen – vier Sommermonate lang hat der Schriftsteller „Vorabend“ 2010 im Literaturhaus Frankfurt öffentlich diktiert. Er ist, das beweisen seine Hörbücher, ein großartiger Live-Erzähler. Allein auf diesem Weg vom Mündlichen zum Schriftlichen mag sich der Stoff schon verändern. Doch unterbricht Kurzeck sich selbst auch häufig mit erstaunten Ausrufen: „Erst mir die ganze Gegend nur ausgedacht, sagte ich. Und jetzt, wenn man hinkommt, jetzt gibt es sie wirklich!“ Oder umgekehrt: „Wenn, sagte ich, wenn etwas war und dann nicht mehr ist, muss man sich erinnern.“

Kurzeck bildet die Wirklichkeit nicht eins zu eins ab, er bildet sie nach. Sie entsteht beim Erinnern, beim Ausdenken: literarische Wirklichkeit, Lebenswirklichkeit. Was ausgedacht ist, so Kurzeck, muss nicht weniger wirklich sein. Manchmal fragt er sich gar, ob sein Leben nur geträumt sei: „Im falschen Leben! Der falsche Mensch!“

Im letzten „Vorabend“-Drittel kehrt Kurzeck zunehmend ins Reich der Kindheit zurück, sein „Königreich“. Das beklagt er als verlorenes – um es dann wieder als noch schöneres, großartigeres wiederauferstehen zu lassen. Da geht er die Wege der Kindheit; und da stellt er auch fest, „dass man dann kein Kind mehr ist und auch nie mehr eins sein wird. Und dass einem nicht einfällt, was das sein könnte, was man vielleicht einmal vergessen hat.“

Kurzeck wird wegen seines nimmermüden Erinnerungsfurors, seiner Beschwörung der verlorenen Zeit häufig mit Proust verglichen, und er hat wohl auch nichts gegen diesen Platz auf den Schultern eines Giganten: Carina und Sibylle verzehren beim Zuhören im Haus der Freunde Madeleine-Plätzchen. Doch er trägt ebenso die Züge eines Pop-Archivars. In seinen zahlreichen Aufzählungen ist gut zu erkennen, wie es aussah in den bundesrepublikanischen Jahrzehnten. Gegen nostalgische Anwandlungen ist Kurzeck dabei nicht gefeit. Dass früher vielleicht einiges besser war, schimmert durch; dass der Feind der Natur der moderne, auf Konsum und Bequemlichkeit bedachte Mensch ist. Und doch gesteht er ein, dass sich etwa in der Fabrik seines Schwagers vieles verbessert hat. Oder dass auch er gern in alten Karren auf den neuen Straßen im Oberhessischen herumbraust.

Die Kritik an der Fortschrittsbesessenheit ist das eine; das andere, Wichtigere ist das Erzählen von allem, „was nicht mehr da ist.“ Das geht nicht ohne Blessuren, ohne Verstimmungen, zumal Kurzeck ein mit Preisen ausgezeichneter, aber kein kommerziell erfolgreicher Schriftsteller ist. Trotzdem ermahnt er sich auch in schlechten Momenten: „Und sollst doch die Schönheit singen.“ Das tut er. So schön singt gerade kaum ein zweiter Schriftsteller. Bei ihm erstrahlt selbst das Graue und Trostlose der Bundesrepublik in hellem literarischen Glanz.

Peter Kurzeck:Vorabend. Roman. Stroemfeld. Frankfurt/M. 2011. 1015 S., 39, 80 €.

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