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Getriebener, Außenseiter, Rimbaud-Seelenbruder. David Wojnarowicz, 1981 fotografiert von Peter Hujar.

© Frank Sperling

Kunst-Werke in Mitte: Feuer im Bauch

Getriebener und Außenseiter: Die Kunst-Werke in Mitte erinnern an den Künstler David Wojnarowicz und den Kurator Frank Wagner.

Hinsehen müssen. In David Wojnarowicz' Film „A Fire in My Belly“ rotiert ein Augapfel aus Plastik um die eigene Achse. Als wäre es unmöglich, die Augen vor dem alltäglichen Elend in Mexiko-Stadt zu verschließen, das Wojnarowicz in den späten 1980ern auf 25 Super-8- Filmrollen bannte. Das Kamera-Auge berauscht sich an Wrestling-Shows, Hahnen- und Stierkämpfen. Es entsetzt sich über ein Kind, das sich auf der Straße als Feuerschlucker betätigen muss. Einmal lässt Wojnarowicz die Bilder rückwärts laufen: Der Junge saugt das Feuer förmlich ein. „Ein Feuer in meinem Bauch“ wurde nie fertig. „A Work in Progress“, heißt es im Abspann.

Im Unfertigen steckt manchmal große Kraft. Wie in der Wojnarowicz-Schau in den Berliner Kunst-Werken. In den Filmen, Fotos und Textarbeiten, auf die sich die Ausstellung beschränkt, spürt man die Dringlichkeit. Der Künstler hatte wenig Zeit, er wurde nur 37 Jahre alt.

Der US-Künstler, Schriftsteller und Aktivist David Wojnarowicz (1954-1992) schuf in nicht einmal 20 Jahren ein medienüberspannendes, stilistisch überbordendes, ungezähmtes Werk. Seine Wiederentdeckung, die 2018 in einer Soloschau im New Yorker Whitney Museum kulminierte, hängt auch mit der paradoxen Wirkung postumer Zensurversuche zusammen. 2010 entfernte das Washingtoner Smithsonian Museum den Stummfilm „A Fire in My Belly“ aus der National Portrait Gallery. Die Catholic League hatte gegen das Werk, in dem unter anderem Ameisen über einen Kruzifix krabbeln, protestiert. Was sich als unklug herausstellte, denn nun verbreitete sich das Video viral im Internet, um mehr Zuschauer denn je zu erreichen.

Leidenschaftlicher Autor

150 Arbeiten sind in der KW-Schau „Photography & Film. 1978-1992“ zu sehen, darunter diverse Text-Bild-Tafeln. Wojnarowicz’ erste Leidenschaft war das Schreiben. Ein fotografisches Selbstporträt mit blutender Nase ist auf einem Offset-Poster von 1985 zu sehen. Auf einem dazugestellten Text entrüstet sich der Künstler über staatlich sanktionierte Gewalt gegen Homosexuelle. Von der Beschreibung des Ist-Zustandes geht der Autor in eine Rachefantasie gegen die bürgerliche Gesellschaft über: „In meinen Träumen ... dringe ich in eure Häuser durch die feinsten Risse in den Ziegeln ein ... Ich passiere eure Wohnzimmer, nehme die Treppe zu euren Schlafzimmern ... Ich wecke euch auf und erzähle euch eine Geschichte...“.

Es war, immer wieder, die Geschichte von Doppelmoral und Missbrauch: „Memories That Smell Like Gasoline“, wie Wojnarowicz’ letztes Buch heißt. Wiederholt kam Wojnarowicz auf seine Erlebnisse als minderjähriger Stricher zurück. Das Gros seiner Kindheit verbrachte der Junge in Pflegefamilien, haute ab, stromerte obdachlos durch New York und verkaufte sich an ältere Männer.

Sein engster Freund und Liebhaber ging an Aids zugrunde

Wojnarowicz identifizierte sich mit dem französischen Dichter Arthur Rimbaud, wie er ein Getriebener und Außenseiter, der es in der kleinbürgerlichen Enge nicht aushielt. In den Kunst-Werken ist die Fotoreihe „Rimbaud in New York“ (1978-79) zu sehen, für die Wojnarowicz Freunden und Liebhabern eine Maske des Dichters aufsetzte und sie so an der New Yorker Hochbahn und den Pornokinos des Times Square posieren ließ.

Körper und Krankheit rückten in den Mittelpunkt seines Schaffens, als Wojnarowicz' Lover und dann engster Freund, der Fotograf Peter Hujar, an den Folgen von Aids zugrunde ging. Auf das Blatt der HIV-Diagnose für Hujar zeichnete Wojnarowicz 1987 zwei Männer, die sich küssen. Aus dem Arztbrief wird ein Liebesbrief. Hujars Gesicht und dessen rechte Hand sind auf drei eindringlichen Wojnarowicz-Fotos in der Ausstellung zu sehen, die am Totenbett des Freundes entstanden.

Eine der stärksten Textarbeiten des Künstlers entstand 1990 für die Aids-Aktionsgruppe ACT UP Berlin. Um ein kindliches Selbstporträt herum schildert Wojnarowicz, was einem schwulen Jungen in einer repressiven Gesellschaft widerfahren kann. Das Multiple ist dann noch einmal in der Ausstellung „Ties, Tales and Traces“ zu sehen, die im Vorderhaus der Kunst-Werke eine Schlüsselfigur für Künstler in Berlin würdigt: den Kurator Frank Wagner, der 2016 57-jährig an Krebs starb. Wagner war mit Wojnarowicz befreundet, 1992 organisierte er mit „Close to the Knives – A Memoir of Disentegration“ einen Gedenkraum für den Toten in den KW.

Eine unendlich amerikanische Geschichte

Wie Wojnarowicz es als Künstler exemplarisch tat, hob auch Wagner mit seinen Projekten Fragen zu Körper, Sexualität und Gender ins Licht der Öffentlichkeit. Mit dem Ausstellungsmacher erinnert die Institution zugleich an eine Zeit schlimmster Stigmatisierung von HIV-Infizierten. Mit „Vollbild AIDS. Eine Kunstausstellung über Leben und Sterben“ kuratierte Wagner 1988 die erste umfassende Schau in Europa zum HI-Virus.

Auf einer Fototapete ist der Kurator zu sehen, wie er aus einem goldglänzenden Perlenvorhang von Felix Gonzáles-Torres hervorlugt. Über 900 Kunstschaffende mit explizit gesellschaftspolitischer Agenda hat Wagner in gut 30 Karrierejahren ausgestellt, darunter Monica Bonvicini, Marlene Dumas, Valie Export, Wolfgang Tillmans, Yoko Ono oder Jeff Wall. Über 700 Kunstwerke, teils mit persönlichen Widmungen versehen, fanden sich in Wagners Nachlass.

Die Aids-Krise ist beendet. Dass Künstler wie David Wojnarowicz heute wiederentdeckt werden: Frank Wagner hätte das gefreut. Sicher war HIV ein Katalysator für Künstler wie Wojnarowicz. Aber es ging in seiner Kunst um viel mehr als den persönlichen Kampf gegen Krankheit und Ausgrenzung. Es ist kein Zufall, dass die Vieldeutigkeit seiner Werke in der Trump-Misere erkannt wird. Etwa das berühmte Wojnarowicz-Foto „Untitled (Buffaloes)“, das eine Single der irischen Band U2 zierte und jetzt auch im KW zu sehen ist. Es zeigt von einer Klippe stürzende Büffel (entsprechend einer indianischen Jagdmethode). Unübersehbar reagierte Wojnarowicz auf das Massensterben am Aids-Virus. Aber vor allem erzählt das Bild von Gewalt – erzählt eine unendliche amerikanische Geschichte.

„David Wojnarowicz. Photography & Film 1978-1992“, „Ties, Tales and Traces. Dedicated to Frank Wagner, Independent Curator (1958-2016)“, bis 5. Mai, KW Institute for Contemporary Art, Auguststr. 69, Mi – Mo 11 – 19 Uhr, Do 11 – 21 Uhr.

Jens Hinrichsen

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