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Plakat für das Dschungelabenteuer "Bring sie lebend heim!" (USA, 1932).

© Deutsche Kinemathek

Kunst mit Kriegsschäden: Schätze aus Schächten

Angekokelt: Das Berliner Filmmuseum zeigt Kinoplakate, auf denen die deutsche Geschichte ihre Spuren hinterlassen hat.

Der Riss geht mitten durch den Kopf des Raubtiers. Dort, wo die Nase des Tigers sein müsste, prangt ein Loch. Seine Zähne, fletschend zum Todesbiss geöffnet, sind angekokelt. Auf dem Plakat, das 1932 für den Dschungel-Abenteuerfilm „Bring sie lebend heim!“ mit dem amerikanischen Tierfänger Frank Buck warb, ringen Tiger und Panther miteinander. Durch das rechte Auge und die Stirn der göttlichen Greta Garbo, wie sie 1931 für Clarence Browns Romanze „Yvonne“ posierte, ziehen sich fingerbreite Risse. Und bei der wandgroßen Illustration eines Schlittens, der 1926 fürs Melodram „Siberia“ der Fox Film Corporation durch eine Schneenacht raste, fehlt der Bauch eines Zugpferdes und der halbe Kopf des Wolfs, der ihm nachsetzt.

Risse in Greta Garbos Stirn

In der Ausstellung „Brandspuren“ der Deutschen Kinemathek Berlin hat die Geschichte buchstäblich ihre Spuren hinterlassen. Zu sehen sind zwei Dutzend Filmplakate aus den ersten vierzig Jahren der Kinogeschichte, die für diesen Anlass aufwendig restauriert wurden. Dass sie überhaupt noch existieren, gleicht einem Wunder. Sie waren 1944/45 als Teil des von den Nationalsozialisten gegründeten Reichsfilmarchivs aus Berlin und Potsdam-Babelsberg zusammen mit Zensurmaterialien, Fotos und Schriftgut in ein Salzbergwerk im niedersächsischen Örtchen Grasleben ausgelagert worden. Gleich nebenan in 430 Meter Tiefe wurden Gemälde und Skulpturen aus den Beständen der Berliner Nationalgalerie untergebracht, die ebenfalls vor dem Bombenkrieg gerettet werden sollten.

Besuch von den Monuments Men

Doch während die Monuments Men von der legendären US-Army-Spezialeinheit zur Rettung von Kunstgütern kurz nach Kriegsende die Kisten mit den Museumsschätzen unversehrt bergen konnten, brach bei den Kinomemorabilia ein Feuer aus. Ob eine umgekippte Grubenlampe die Ursache war oder sich ein hochempfindlicher Zelluloidfilmstreifen selbst entzündet hatte, „wird sich wohl nie klären lassen“, erzählt Kurator Rolf Aurich. Ein Teil des Materials ging in Flammen auf, zurück blieb ein Berg von versengtem, zerfetzten, durch Löschwasser beschädigtem Papier und Kunststoff.

Plakat für das britische Fischerdrama „Die Männer von Aran“ (1934).
Plakat für das britische Fischerdrama „Die Männer von Aran“ (1934).

© Deutsche Kinemathek

Auf einem Foto der Ausstellung, die rund hundert Exponate umfasst, stehen zwei britische Soldaten staunend neben Dutzenden Gemälden, die der Größe nach sortiert an einer Stollenwand lehnen. Eine andere Aufnahme, 40 Jahre später entstanden, zeigt Werner Sudendorf, den langjährigen Sammlungsleiter der Kinemathek. Er trägt einen Schutzhelm mit Lampe und steckt bis zur Gürtellinie in einem geröllartigen Dokumentenwust, vorsichtig einzelne Objekte in Augenschein nehmend. Dreimal – 1986, 2017 und 2019 – sind Mitarbeiter des Berliner Film- und Fernsehmuseums in den Schacht eingefahren, um Schätze ans Tageslicht zu bringen. Bis heute wird in Grasleben Salz abgebaut. Noch immer liegen dort Archivreste, aber, so Aurich, „kaum noch Stücke, die halbwegs zuzuordnen und rekonstruierbar wären“.

Die Bergwerkskammer gleicht einer Black Box der deutschen Filmgeschichte. Was aus ihr hervorgeholt wird, kann unbekannte Aspekte gerade aus den Kintoppanfängen erhellen. Achtzig Prozent der Stummfilme gelten als verschollen, was man über sie weiß, entstammt oft allein Fotos, Werbematerial oder Zensurvermerken. Die ältesten Plakate der Schau warben für „Die närrische Fabrik“, einen Teil der 1915 vom späteren Monumentalfilmregisseur Joe May gestarteten Serie um Detektiv Joe Debbs, und fürs Wildwestdrama „Das höchste Gesetz der Natur“ von 1916, von dem weder Regisseur noch Mitwirkende bekannt sind.

Papierarchäologische Puzzlearbeit

Wie manchmal nur fingerkleine Fragmente in akribischer papierarchäologischer Puzzlearbeit wieder zu großformatigen Bildern zusammenfügt werden konnten, das zeigt ein beeindruckendes Video über die Arbeit einer Restauratorin. Weil der hohe Salzgehalt die Plakate brüchig gemacht hatte, wurden sie zunächst ins Wasserbad gelegt. Rund 20 000 Euro hat das gekostet, die aus Eigenmitteln der Kinemathek und einem Sonderfonds der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) kamen.

Das Reichsfilmarchiv, 1935 aus der im Rahmen der „Gleichschaltung“entstandenen Reichsfilmkammer hervorgegangen, war ein Prestigeprojekt der Nationalsozialisten. Zu den Aufgaben der von Propagandaminister Goebbels initiierten Behörde gehörte es, Politikern Filme zukommen zu lassen, die in den Kinos verboten waren, etwa – weil wie beim Klassiker „Casablanca“ – deutsche Emigranten darin mitwirkten. Als Filmerbe gesammelt wurden auch Werke von jüdischen Regisseuren und Schauspielern.

Ein Akt heimlichen Widerstands? Oder das Gesetz der Komplettierung? Auch diese Geschichte, das macht die filmhistorisch weit ausholende Ausstellung klar, ist noch nicht zu Ende erzählt (Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, bis 31. Mai, Mi–Mo 10–18, Do 10-20 Uhr).

Christian Schroeder

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