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Libby Heaneys Installation „Ent-“ in der Schering Stiftung verzaubert und verwirrt.

© Andrea Rossetti, Schering Stiftung 2022

Kunst mit dem Quantencomputer: Der Himmel pulsiert

Himmel oder Hölle? Die Künstlerin Libby Heaney beschäftigt sich mit einer der wichtigsten Zukunftstechnologien: dem Quantencomputer.

Es gibt nur wenige, die sich vorstellen können, wie ein Quantencomputer funktioniert. Das liegt auch daran, dass es derzeit noch keine vollwertigen Geräte gibt. Manche Modelle sehen aus wie prunkvolle Kronleuchter, andere wie Tiefseetauchröhren. Im bevorstehenden Quantenzeitalter wird die Welt eine andere sein, prophezeien Wissenschaftler.

Im Kunstraum der Schering Stiftung kommt man dieser unbekannten Welt etwas näher. Eine 360-Grad Projektion führt die Besucher quasi in so einen Rechner hinein: ein weißer Zylinder, im Inneren mit goldenen Drähten bestückt, „goldene Tentakel“, wie die Künstlerin Libby Heaney sagt. Drähte sind ein wichtiges Element bei der Schaffung der äußerst empfindlichen Qubits, mit denen der Quantencomputer arbeitet.

Wichtige Prinzipien: Überlagerung und Verschränkung

Wenn jemand davon sprechen kann, ist es Libby Heaney. Heaney ist promovierte Quantenphysikerin, hat an den Universitäten in Oxford und Singapur in ihrem Spezialgebiet der „Quantenverschränkung“ geforscht.

Ein Quantenpartikel kann mehrere Zustände gleichzeitig einnehmen. Und wenn zwei Partikel sich verschränken, sind ihre Eigenschaften über beide Objekte hinweg verstreut. Die Beziehung besteht, auch wenn sie längst nicht mehr am selben Ort sind. Die ganze Quantenwelt basiert auf dieser Art der nicht-lokalen Verbundenheit. Eine faszinierende, etwas magische Fähigkeit der kleinsten Teilchen.

Die Britin Libby Heaney hat einen Teil ihres Studiums in Deutschland absolviert und gehört zu den ersten, die Kunst mit einem Quantencomputer machen. Sie kann via Cloud auf ein solches Gerät zugreifen. Die in blau, grün und magenta leuchtenden, aus kleinen Pünktchen bestehenden Gebilde, die in ihrer Installation „Ent“ aufscheinen, wirken wie freundliche Hybride aus Tier, Mensch und Materie.

Hybrides Gebilde auf der Basis von Aquarellmalerei und Quantencomputing.
Hybrides Gebilde auf der Basis von Aquarellmalerei und Quantencomputing.

© Andrea Rossetti, Schering Stiftung 2022

Sie basieren auf Aquarellbildern der Künstlerin, die per Quantencomputing in alle möglichen Versionen ihrer selbst transformiert wurden. Als pulsierendes, fließendes Etwas verströmen sie sich im Ausstellungsraum wie eine Welle. Was ist die Quantenlogik daran, fragt man sich, und wird das Rätsel als Laie nicht lösen. Was man aber wahrnimmt ist eine verschwommene, diffuse, uneindeutige Welt.

Jeder schraubt an seiner eigenen Lösung

Noch schrauben Firmen wie Google oder IBM jeweils an ihrer eigenen Quanten-Lösung. Standards in Hard- und Software haben sich noch nicht durchgesetzt. Quantencomputer sind noch fehleranfällig und „verrauscht“, wie man im Fachjargon sagt. Beim klassischen Computer liegen Bits als Nullen und Einsen vor. Quantenbits hingegen sind Null und Eins zugleich. Das potenziert die Rechenleistung.

Ein Quantencomputer, erfasst die Gesamtheit aller Möglichkeiten in Sekundenschnelle, löst mathematische Probleme, die die Rechenkapazität digitaler Geräte übersteigen. Das kann in der Klimaforschung helfen oder beim Lenken von Verkehrsflüssen in Echtzeit. Allerdings ist auch kein Passwort, keine Verschlüsselung nach heutigem Standard mehr sicher. Wissenschaftler sprechen von der „Zukunftstechnologie des 21. Jahrhunderts“. Jeder will sie als erstes: China, der Westen. Wir sind schon mitten im Quantenwettrüsten.

Boschs Garten der Lüste in einer Quantenversion. Libby Heaneys Installation „Ent-“.
Boschs Garten der Lüste in einer Quantenversion. Libby Heaneys Installation „Ent-“.

© Andrea Rossetti, Schering Stiftung 2022

Wie immer bei großen Technologiesprüngen sind die Verheißungen groß. Die Abgründe - im Quantenzeitalter drohen staatliche Totalüberwachung, massive Datenextraktion - aber auch. Als visuellen und gedanklichen Anker für diese Ambivalenz wählt Heaney ein Bild aus der Kunstgeschichte: Hieronymus Boschs berühmtes Gemälde „Garten der Lüste“.

Boschs Garten der Lüste

Das aus dem 15. Jahrhundert stammende Triptychon des Niederländers zeigt links den Beginn der Schöpfung, rechts die Hölle. In der Mitte dominieren Freude, Leidenschaft, Begehren. Heaney hat eine Quantum-Interpretation der Himmel- und Hölle-Motivik programmiert und konzentriert sich auf die mittlere, die freudvolle, Tafel.

In ihrer Quantenversion, die im Auftrag der Berliner Kunstplattform Light Art Space (LAS) gezeigt wird, lösen sich religiöse Dichotomien wie Gut und Böse auf, wird ein Zustand der Gleichzeitigkeit und permanenten Umformung zelebriert. Quantensysteme lassen sich aus Heaneys Sicht als Denkmodell einer besseren Zukunft verwenden. Hybridität, Verbindung und das Akzeptieren uneindeutiger Zustände sind Stichworte, die gesellschaftlich und politisch resonieren.

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Nackte Menschlein leben, lieben und spielen mit Tieren in lieblicher Natur. Die fantastischen Architekturen und kugeligen Behausungen, die auf Boschs Bild zu sehen sind, tauschen auch in Heaneys Installation auf. Die Türme lösen sich in ihre Einzelteile auf, regnen auseinander, formieren sich in neuen Kombinationen.

Ein permanentes Entstehen und Vergehen. Irgendwann, zu einem unbekannten Zeitpunkt, kollabiert die lustvolle Welt, der Film stoppt. Wieder eine Analogie. Solche Zusammenbrüche bestimmen auch die fragile Welt der Quantenbits.

[Bis 1. Mai, Schering Stiftung, Unter den Linden 32-34, Do/Fr 13-21 Uhr, Sa/So 11-19 Uhr. Mehr Informationen gibt es bei Light Art Space.]

Die Frage nach der Ethik muss diskutiert werden

Nicht nur die komplexen Regeln der Quantenmechanik sind ungreifbar, auch zukünftige Möglichkeiten und Risiken. Enttäuscht von den kritischen Diskursen im Feld der Wissenschaft, wechselte Heaney nach ihrer Promotion zur Kunst. Es passiert in der Gesellschaft häufig, dass Fragen zur Ethik im Zusammenhang mit einer neuen Technologie viel zu spät und nur von einer kleinen Elite gestellt werden.

Was wäre, wenn die Kunst dazu imstande wäre, die technologische Entwicklung für einen Moment zu pausieren, um Fragen zu stellen? „Kritische Gespräche außerhalb der Fachwelt sind enorm wichtig“, sagt Heaney. „Sonst haben nur Wissenschaftler und Investorinnen das letzte Wort, nicht aber die breite Öffentlichkeit.“

Natürlich gibt es auf die Frage, ob Quantentechnologie gut oder schlecht ist keine eindeutige Antwort. Sie kann beides sein. Man sollte aus Heaneys Sicht eher fragen, wem verleiht sie Macht und wem nicht? Und wie lassen sich Machstrukturen durchbrechen?

Dass Heaney sich entschieden hat, mit Quantentechnologie Kunst zu machen, ist auch aus feministischer Perspektive zu verstehen. Es ist eine Möglichkeit, den vorherrschenden Einsatz dieser Technik zu unterlaufen. Anders abzubiegen. Neue Möglichkeiten zu sehen und positive Impulse zu streuen. Nicht umsonst heißt die Arbeit „Ent“, die Silbe steht für „Enter“ und „Entstehen“ - sie ist Einladung und Weckruf zugleich, sich nicht erst zu interessieren, wenn es zu spät ist.

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