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Eine Höhle aus feinen Wollfäden: Chiharu Shiotas Installation in der Nikolaikirche.

© Leo Seidel/Stiftung Stadtmuseum

Kunst in der Berliner Nikolaikirche: Den Wörtern ein Gehäuse

Zeichnen in der Luft: Chiharu Shiotas poetische Faden-Skulptur „Lost Words“ in der Berliner Nikolaikirche.

Flink wie die Fischer ihre Netze flicken knüpfen die Assistenten von Chiharu Shiota den schwarzen Wollfaden zu einem dichten Gespinst. Geschickt schlaufen sie das Knäuel durch jede neue Öffnung, ziehen nach, fädeln in eleganten Wellenbewegungen neu ein, lassen wahlweise große oder enge Abstände. Am Ende wird der Faden gespannt und am Boden fest getackert. So entsteht ein festes Gespinst, ein Raum aus komplexen Verbindungsstrukturen.

Für „Lost Words“ hat die Künstlerin Chiharu Shiota das gesamte Mittelschiff der Nikolaikirche mit einer über zehn Meter hohen Fadenskulptur gefüllt, halb Gewölbe, halb Wolke. Den Altarraum dahinter hat sie mit einem feinen, schwarzen Baldachin überspannt. Die zarte, zurückhaltende Architektur lässt sich auch in fetten Rekorden beschreiben: 7200 Aufbauminuten, 5700 Wollknäuel, 750 Kilometer Faden. In das Knotenlabyrinth sind 4000 Bibelseiten in verschiedenen Sprachen und Schriften geknüpft. Verwehte Botschaften – Lost Words.

Zum Reformationsjubiläum haben Paul Spies, der Direktor der Stiftung Stadtmuseum, die Guardini Stiftung sowie die Stiftung St. Matthäus sie zu einem Gastspiel in das Museum Nikolaikirche eingeladen. Seit fünf Jahren beschäftigen sich die Stiftungen mit dem Dekalog. Mit dem Auftritt von Chiharu Shiota ist ihnen ein Knüller gelungen.

Die Japanerin lebt seit 20 Jahren in Berlin und gehört zu den Künstlerinnen, die sich leise, aber mit großer Beharrlichkeit durchsetzen. International bekannt wurde sie, als sie 2015 den japanischen Pavillon in Venedig gestaltete mit „The Key in the Hand“. Da knotete sie zahllose Schlüssel in ein Fadengehäuse. Die Arbeit verband ihre Themen: das Haus, die Heimat, die Identität und die Beziehung zum sozialen Umfeld. „Wenn ich jemandem den Schlüssel gebe, heißt das, ich vertraue der Person. Wenn ich den Schlüssel verloren habe, ist das, als ob ich mein Haus verloren habe“, sagt sie.

Zwischen Malerei und Performance entdeckte sie den Faden als Material

Im Frühjahr war in der Kunsthalle Rostock ihre erste große Retrospektive in Deutschland zu sehen. Da konnte man die Entwicklung des Werks beobachten. Chiharu Shiota studierte Malerei in Kyoto. Auf der Suche nach eigenen Ausdrucksmöglichkeiten trat sie bei einem Austauschaufenthalt im australischen Canberra selbst als Gemälde auf. Für „Becoming Painting“ schlüpfte sie in ein weißes Gewand und ließ sich mit roter Emaille-Farbe bedecken. Später studierte sie in Braunschweig und Berlin bei Marina Abramovic und Rebecca Horn. Auf dem Weg zwischen Malerei und Performance fand sie den Faden als ihr ganz eigenes Material für „Zeichnungen in der Luft“.

Zartes Gebilde. In Chiharu Shiotas Labyrinth aus 750 Kilometer Faden sind 4000 Bibelseiten in verschiedenen Sprachen und Schriften geknüpft.
Zartes Gebilde. In Chiharu Shiotas Labyrinth aus 750 Kilometer Faden sind 4000 Bibelseiten in verschiedenen Sprachen und Schriften geknüpft.

© Leo Seidel/Stadtmuseum

Das ganze Werk ist zweifarbig geblieben: Rot wie das Blut, wie das Innenleben, die Nervenbahnen, die psychischen Konditionierungen. Rot wie die monumentale Arbeit von 2016 „Uncertain Journey“ in der Galerie Blain Southern. Und Schwarz wie die Außenwelt, das Haus, die Gesellschaft, die sozialen Kontakte, aber auch wie Anfang und Ende des Lebens.

In den schwarzen Verspannungen von „Lost Words“ erzählt Chiharu Shiota die Geschichte der „Unsichtbaren“ in Japan. Nach der Missionierung des Landes durch die Portugiesen im 16. Jahrhundert war das Christentum von 1614 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verboten, christliche Schriften wurden verbrannt. Einige Gruppen hielten im Verborgenen an ihrer Religion fest und überlieferten die Bibel mündlich. Dabei wandelten sich die Texte, blieben aber erhalten. „Mentale Immigration“ nennt Chiharu Shiota die Mischung aus Aneignung und Anpassung.

Chiharu Shiota wird die Fäden am Ende wieder mit der Schere zerschneiden

In der Nikolaikirche hat sie jetzt den verlorenen Wörtern ein Gehäuse geknüpft. Ein sehr irdisches Heim. Schon die Umgebung verhindert, dass Pathos aufkommt. Denn das Museum Nikolaikirche zeugt von den vielen, oft vergeblichen Versuchen der Menschen, in der Erinnerung weiter zu leben. Eine Gebührenordnung für die historischen Grabstellen in der Kirche unterscheidet zwischen alten und jungen Personen. Alte mussten das Doppelte zahlen.

Die Grabbeigaben der Waisenkinder für die Stifterin Maria Rosina Schindler sind ausgestellt. Die Jungen gaben der Gründerin des Waisenhauses Murmeln, Kastanien und Kreisel mit auf den Weg ins Jenseits. Vom Altar existieren nur noch die Schnitzfiguren von Johann Christoph Döbel. So stark ist offenbar der Impuls, die fröhlich himmelwärts flatternden Engel mit der Hand zu berühren, dass mehrere Verbotsschilder aufgestellt sind. Und dann ist da noch das unübersehbare Wahrzeichen des Gasthauses „Zur Rippe“. Die Rippe und das Schulterblatt eines Wals sorgen dafür, dass der Berliner Wirt nie vergessen wird.

Chiharu Shiotas Kunst akzeptiert dagegen die Vergänglichkeit, integriert und verwandelt sie. Der Aufbau hat vierzehn Tage gedauert, aber bald, nach Ausstellungsende, ist alles wieder verschwunden. Die Fäden werden mit der Schere zerschnitten. „Aber“, sagt die Künstlerin, „die Leute können sich daran erinnern. Das bleibt im Herzen.“

Museum Nikolaikirche, Nikolaikirchplatz Berlin, noch bis 19. 11., tägl. 10 – 18 Uhr

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