zum Hauptinhalt
Glaube nicht, dass die Zeit so vergeht wie der Regen. Ein Blatt von Gerd Doege.

© Abbildung: Gerd Doege

Kunst der Kalligrafie: Innehalten im Fließen der Welt

Der Kalligraf und sein Kommentator: Gerd Doege und Ralf Schnell erkunden eine poetische Kunst über alle Kulturen hinweg.

Von Gregor Dotzauer

Für Henri Michaux, dem die Feder des Dichters so vertraut war wie der Pinsel des Malers, war die Aufgabe der Kalligrafen klar. Sie bestehe darin, schrieb er in einem Essay über Chinas Schriftzeichen, die Poesie zu vollenden – als „Ausdruck, der das Gedicht kostbar macht, der für den Dichter bürgt“.

Das typografische Genie von Xu Bing, der seit seinem „Book from the Sky“ (1991) Weltruhm genießt, konnte er noch nicht kennen: Die 4000 chinesisch anmutenden Zeichen, die der Pekinger Konzeptkünstler erfand, verweisen einzig und allein auf sich selbst. Er habe, gestand Xu einmal, vier Jahre seines Lebens damit verbracht, etwas herzustellen, das nichts bedeutet.

Die kalligrafischen Arbeiten von Gerd Doege wollen dagegen durchaus Texte sichtbar machen: Texte quer durch alle Kulturen, in denen die Kunst des schönen Schreibens gepflegt wird. Texte allerdings, die nicht durch bloße Aneignung von Darstellungsweisen lebendig werden, denen sie ihrer Tradition nach entstammen, sondern im Zusammenstoß mit anderen Traditionen.

Zenweisheiten mit römischer Anmutung

So begegnen sich in dem oben abgebildeten Blatt eine Weisheit des japanischen Zenmeisters Dogen aus dem 13. Jahrhunderts mit einer Form der römischen Kursive, ergänzt um skizzierte Kanji-Zeichen und einen getuschten Kreis als Inbegriff eines zyklischen Weltverständnisses.

Auf anderen Blättern verknäueln sich Andeutungen der indischen Silbenschrift Devanagari mit lateinisch wirkenden Elementen, um Rabindranath Tagores Erkenntnis „In der Liebe verlieren sich alle Widersprüche“ zu begleiten. Oder das Wort „Kohelet“ (Prediger), mit dem ein Buch des jüdischen Tanach überschrieben ist, wird in hebräisch anmutenden Lettern variiert.

Hieroglyphen und Emoticons

Der Germanist Ralf Schnell kommentiert alle 51 teils auf ausklappbaren Seiten gedruckten Arbeiten mit hingebungsvoller Genauigkeit. Und nicht nur das: In einem abschließenden Kapitel bietet er einen „Streifzug durch die Kulturgeschichte der Kalligrafie“. In müheloser Eleganz verbindet sie auf nur 20 Seiten ptolemäische Hieroglyphen und Emoticons, barocke Schriftbilder und die Buchstabenkunst des konkreten Poeten Franz Mon.

Er sieht die Aufgabe des Kalligrafen in der Versöhnung sonst unvereinbarer Gegensätze, nämlich „Schrift und Bild, Denken und Imagination, Diskursivität und Visualität in einen Dialog zu bringen, um der Bewegtheit der ,fließenden Welt’ immer aufs Neue einen Augenblick des Innehaltens abzugewinnen und diesen für das Auge buchstäblich einleuchtend werden zu lassen.“ In seinen besten Momenten gelingt dies auch Gerd Doege.
Gerd Doege, Ralf Schnell: Es entfernten sich die Dinge. Kalligrafische Reflexionen. Universi, Siegen 2020. 106 Seiten, 59,50 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false