zum Hauptinhalt
Gegen den Kunstbetrieb. Der jüdische Künstler Boris Lurie gehört zu den Gründern der Gruppe „NO!art“. In Aachen ist seine Collage „Lumumba is Dead (Adieu Amerique)“ aus den frühen sechziger Jahren zu sehen.

© Boris Lurie Art Foundation.

Kunst der 68er: Mit Fantasie gegen die Macht

Avantgarde des Aufbruchs: Die Ausstellung „Flashes of the Future“ im Aachener Ludwig Forum rehabilitiert die Kunst der 68er als subversive Kraft.

Zur 50. Wiederkehr der Ereignisse des Epochenjahres 1968 sind zahllose Bücher, Aufsätze und Artikel erschienen, zum nicht geringen Teil von Veteranen jener „Bewegung“. Die bildende Kunst stand bei den Gedenkfeiern bislang am Rande; was einleuchtet, zielten doch die 68er auf den Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse, nicht auf den der Kunst. Schaut man indes genauer hin, zeigt sich 1968 als Kulminationspunkt ästhetischer Umbrüche. Eine der schönen Parolen des Pariser Mai lautete bekanntlich „Die Fantasie an die Macht“, und wo, wenn nicht in der Kunst, war dieser Forderung unmittelbar zu verwirklichen!

Vielleicht erinnert man sich keines herausragenden Kunstwerks der 68er-Zeit – doch die ist, lässt man die Geschehnisse Revue passieren, geradezu vollgestellt mit Bildern der Kunst. Zwei zentrale Ereignisse des Kunstbetriebs fallen in das Jahr 1968: die Kasseler Documenta in ihrer vierten Ausgabe sowie die Biennale von Venedig. Letztere wurde gestürmt, was den sich rasant wandelnden Kunstbegriffen nach selbst schon ein Kunstwerk war. Bald gab es Happenings allerorten.

Der Katalog ist ein Geniestreich

Dass sich die Kunst gewandelt hatte – schon vor 1968, aber dann erst recht sichtbar –, wurde hierzulande mit der bald darauf eröffneten Ausstellung „Kunst der 60er Jahre“ im Kölner Wallraf-Richartz-Museum sinnfällig, in der die amerikanische Pop Art auf die westdeutsche Szene trat. Es war der Nukleus der Sammlung Ludwig, die mit der Pop Art den Nerv der Zeit traf. So ist es kein Zufall, dass die Übersicht über die Kunst der 68er jetzt im Ludwig Forum in Aachen gezeigt wird, unter dem einem Künstlerwort entlehnten Titel „Flashes of the Future“. Diese „Blitze der Zukunft“, die da in die ehemaligen Fabrikationshallen, eine der vielen Zweigstellen des Ludwig-Kunstimperiums, eingeschlagen haben, bündeln sich zu einem Gewitter, das noch einmal die Erschütterungen von damals nachbeben lässt.

Erschüttert wurde ganz Europa. Die Kuratoren, Andreas Beitin als Direktor des Ludwig Forums und der Berliner Kunsthistoriker Eckhart Gillen, machen die im Wortsinne „grenzenlose“ Potenz der Kunst anhand zahlreicher internationaler Leihgaben sichtbar. Während sich die politischen Bewegungen in Frankreich, Italien sowie der Bundesrepublik samt ihrer eigentümlichen Exklave West-Berlin stark unterschieden, auch gänzlich verschiedene nationale Traditionen für sich reklamierten, bildete die Kunst ein Kontinuum. Dabei kann die Ausstellung die Rückbeziehung auf die Zeitgeschichte von 1968 naturgemäß kaum leisten, dafür aber der Katalog und seine rund 60 Aufsätze: Es ist ein wahrer Geniestreich, das voluminöse Werk von knapp 600 Seiten durch die Bundeszentrale für politische Bildung zu verlegen, und das zum Niedrigstpreis von sieben Euro.

Die Ablösung der zur „Weltsprache der Kunst“ aufgebauschten (westlichen) Abstraktion durch die unterschiedlichsten Formen von abbildender oder objekthafter Kunst, allgemein die Abkehr von der Tafelmalerei, sind verbindende Grundzüge. Künstlerische Aktionen – und das ist die These von Breitin/Gillen – gingen der politischen Aktion voraus. Beispielhaft sind die Performances wie etwa „Braunkreuz“ oder „Fettecken“, die der Düsseldorfer Joseph Beuys 1964 in Aachen aufführte und bei denen er sich eine blutige Nase einhandelte – eine Märtyrergeste, mit der er zum deutschen Kunst-Erlöser aufsteigen sollte. Bei eben diesem „Festival der neuen Kunst“ hielt auch der junge Bazon Brock Vorträge, der später seine legendäre „Besucherschule“ zur Documenta einrichtete. Heute führt der mittlerweile 81-Jährige die Besucher durch die Aachener Ausstellung.

Die Kunst war der Gesellschaft vorraus

Definitorisches ist der 68er-Kunst fremd; sie ist zugleich ihr eigener Widerspruch. So wundert es nicht, dass zwei herausragende Werke eben doch aus dem Genre der Leinwandmalerei stammen: Renato Guttusos „Mai 1968 – Wandzeitung 1968“ und A.R. Pencks „Übergang“ von 1963. Der im vergangenen Jahr verstorbene DDR-Emigrant Penck sah das Ende der Systeme zu einer Zeit voraus, als diese sich gerade erst für die Ewigkeit einzurichten glaubten, während Guttuso, der Altmeister des italienischen Don-Camillo-Kommunismus, die Ästhetik der den chinesischen Genossen abgeschauten Wandzeitungen in seine pop-bunte Riesenleinwand holte.

Beide Bilder sind politisch in einer Weise, die den tagesaktuellen Aktionismus ihrer Zeit transzendieren. Es galt, Vergangenes ins Gedächtnis zurückzuholen, nicht nur, wenn auch besonders in Deutschland. Wolf Vostell, damals ein wütender Moralist, hat das in Kompositionen aus Fotografie und Malerei wie „Eine Autofahrt Köln-Frankfurt…“ ebenso unternommen wie der Berliner Ulrich Baehr in seinen absichtsvoll verwaschenen Politiker-Darstellungen, etwa der „Großen Drei“ von Potsdam. Als der junge Anselm Kiefer ein Jahr nach ’68 mit Hitler-Gruß durch Europa zog und sich dabei fotografierte, hat das niemand verstanden oder doch nur falsch. Wiederum war die Kunst der Gesellschaft voraus.

Pop-Art als Aufstand

Im Aachener Kontext fließt dann auch der Pop-Art, dieser oft so aalglatten Konsumentenkunst, eine ganz eigene Kraft zu. Das Widerständige der frühen Siebdruckgemälde Andy Warhols, die prononcierte Anti-Kunst der Comic-Bilder Roy Lichtensteins, sie sind im Ludwig Forum mit einem Mal Teil eines Aufstands gegen die nicht nur im Westen zur bloßen Dekoration abgesunkene Offizialkultur. Nebenbei: Das alles, von Guttuso bis Warhol, haben die Ludwigs gesammelt.

Ob die bildende Kunst tatsächlich den aufrührerischen Impuls der 68er am deutlichsten markiert, ist eine These, die die Ausstellung sinnhaft macht, ohne doch alleinige Wahrheit zu beanspruchen. Im Katalog schreibt der Altlinke Klaus Hartung, der später so feinfühlige Beobachter der Wiedervereinigung, über das Verhältnis von Kunst und 68er-Bewegung: „Gerade mit dem Revolutionsanspruch der Moderne und ihrer immer wieder gefeierten Avantgarderolle wollten die ’68er’ nichts zu tun haben.“ Jörg Immendorff, nachher ein Darling des Kunstmarktes, krakelte damals auf seine Leinwände: „Hört auf zu malen!“.

Die Ausstellung ist ein herausragendes Ereignis des 68er-Jubiläumsjahres

Die Sehnsucht nach gewaltsamer Aktion war in der europäischen Linken groß, die sich gern an den Revolutionsbewegungen der „Dritten Welt“ berauschte. Aus diesem Bereich des 68er-Spektrums sind denn auch so gut wie keine künstlerischen Zeugnisse überliefert. Den Vietcong malte man nicht, man ging für ihn auf die Straße.

Nebenbei bietet die Aachener Ausstellung wahre Trouvaillen: so eine Dokumentation zu „Kunzelmanns Keller“, jener Münchner Räuberhöhle des Immer-schon-Kommunarden, in der sich der Geist der Subversion für kurze Zeit verdichtete. Da kommt einem das vom Kuratoren-Duo zitierte Wort des allzu früh verstorbenen 68ers Heinz Dieter Kittsteiner in den Sinn: „Die ominöse ,Befreiung’ fand nur in flüchtigen Momenten des Glücks statt, das in Demonstrationen aufblitzen konnte – dann schlug der Alltag wieder über der Jetztzeit zusammen.“

Die zum Glück nicht ganz so flüchtigen Momente des künstlerischen Glücks versammelt die Aachener Ausstellung. Sie ist eines der herausragenden Ereignisse des 68er-Jubiläumsjahres.

Aachen, Ludwig Forum, Jülicher Str. 97-109, bis 19. August. Katalog bei der Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin, 592 S., 7 €, zu bestellen über www.bpb.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false