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Stolz und Demütigung. Gordon Parks’ Porträt „American Gothic“ der bei der US-Regierung angestellten Reinigungskraft Ella Watson in Washington D.C. 1942.

© Foto:Gordon Parks, Public domain, via Wikimedia Commons

Kulturtheorie der Blackness: Feuerwerk in den Augenhöhlen

Frank B. Wilderson III entwirft in „Afropessimusmus“ eine Theorie des Schwarzen als Alien.

Es ist eine starke Theorie, unversöhnlich, illusionslos, in sich stimmig und provokant. Die „analytische Linse“ des „Afropessimismus“ verändert den Blick. Zurecht spricht der Autor von einer „Metatheorie“. Dabei hat sie nichts mit dem zu tun, was gelegentlich in wirtschaftlicher und geopolitischer Hinsicht „Afro-Pessimismus“ genannt wird, also die herablassende Betrachtung eines vermeintlich von Krankheit und Armut geprägten Kontinents.

Frank B. Wildersons Konzept des „Afropessimismus“, entstanden im US-amerikanischen Kontext, antwortet auf die „monströse Gewalt, die sich in der Banalität von Mikroaggressionen verbirgt“, aber auch auf alltägliche Polizeigewalt und offenkundigen Rassismus. Zugleich ist es eine Absage an die Möglichkeiten der Politik, jemals etwas zu ändern, solange „Blackness“ im gesellschaftlichen Unbewussten als Schreckgespenst fungiert, das zugleich zwingend zur Konstituierung der Menschenwürde beiträgt. Ein abgründiger Gedanke.

[Frank B. Wilderson III: Afropessimismus. Aus dem amerikanischen Englisch von Jan Wilm. Matthes & Seitz, Berlin 2021. 415 Seiten, 28 €.]

„Afropessimismus“ ist eine kritische Theorie von gezielter Negativität. Sie begibt sich auf ein hohes Abstraktionsniveau, das selbst Jacques Derridas Theorem der „Différance“ überbieten will. Die unausgesprochenen Vorannahmen von Marxismus, Postkolonialismus, Psychoanalyse und Feminismus hinterfragend, ist sie in einen autobiografischen Kontext eingebunden. Schlüsselszenen aus dem eigenen Leben wechseln sich mit diskursiven Passagen ab.

Weiterführung des Denkens von Frantz Fanon

Der 1956 in New Orleans geborene Autor, Dramatiker und Filmemacher, Professor an der University of California, Irvine, ist ein glänzender Erzähler von enormer Suggestivkraft. In gewisser Weise schreibt Wilderson das Denken von Frantz Fanon fort, allerdings ohne dessen Hoffnungshorizont. Die beiden bekanntesten Bücher des in Martinique geborenen und 1961 in den USA gestorbenen Psychiaters, „Schwarze Haut, weiße Masken“ (1952) und „Die Verdammten dieser Erde“ (1961), sind wesentliche Referenztexte. Orlando Pattersons „Slavery and Social Death“ von 1982 spielt ebenso eine Schlüsselrolle wie Saidiya V. Hartmans Studie „Scenes of Subject. Terror, Slavery and Self-Making in Nineteenth-Century America“.

Den Auftakt des Buches bildet die Selbst-Einlieferung in eine Klinik mit einem psychotischen Schub. Später erfahren wir, dass der Autor über Jahre zwei antagonistische Psychopharmaka gleichzeitig eingenommen hat. Am Straßenrand sieht er sein Auto stehen, dösend wie „eine kleine blaue Eidechse“. Er geht lieber zu Fuß und nimmt den Bus.

Während eine Krankenschwester und ein Arzt ihn versorgen, sieht er sich so, wie er glaubt, in deren Augen auszusehen: als eine „unförmige schwarze Masse mit filzigem, ungekämmtem Haar und Feuerwerkskörpern, die aus den Höhlen herausschossen, in denen sich eigentlich die Augen befinden sollten“. Das Schlimme am rassistischen Blick ist nicht allein der Blick der anderen. Es ist die Gewohnheit, ihn vorwegzunehmen und auf sich selbst anzuwenden. Acht Jahre lang war Wilderson Börsenmakler, das hat seine Gesundheit „fast vollständig ruiniert“.

Als die Familie Wilderson Anfang der 1960er Jahre in ein weißes Viertel in Minneapolis zog, versuchten die zukünftigen Nachbarn, das mit einer Unterschriftenaktion zu verhindern. Jahrelang bleiben sie die einzige Schwarze Familie. Beide Eltern sind Psychologen, die Mutter promoviert nebenbei, der Vater ist Professor. Lehrtätigkeiten und Sabbaticals führen sie an wechselnde Wohnorte.

Legitime Rebellion

Als Zwölfjähriger, sieben Tage nach der Ermordung von Martin Luther King, verfolgt er mit seiner Großmutter die Unruhen im Fernsehen. „Na, mach schon, mein Junge!“, ruft sie einem Steinewerfer zu. Und er spürt, wie sich ein „Schmerz“ löst. So verbünden sich die beiden, die Schwarze Katholikin aus New Orleans und ihr Enkel, der im Lauf seines Lebens Gegengewalt für ein legitimes Mittel der Rebellion halten wird.

Eine Schlüsselszene führt Wilderson ins Jahr 1988 zurück. Nach seiner Zeit als Börsenmakler arbeitet er als Wachmann in Minneapolis und unterhält sich gerne mit Sameer, einem Palästinenser aus Ramallah, der gleichfalls als Wachmann jobbt. Sameer erzählt von der Demütigung, wenn die Hände israelischer Soldaten abtastend den Körper entlanggleiten.

Am schlimmsten sei es, wenn der israelische Soldat ein „Jude aus Äthiopien“ ist. Für Frank, der bisher glaubte, der Befreiungskampf der Palästinenser und der Schwarzen habe Gemeinsamkeiten, ist das ein tiefgehender Schock: „Ich war konfrontiert mit der Erkenntnis, dass palästinensische Aufständische im kollektiven Unbewussten mehr mit dem israelischen Staat und der israelischen Zivilgesellschaft gemeinsam haben als mit Schwarzen.“

Wenn Schwarze Personen selbst im Unbewussten verfolgter Palästinenser als die Verkörperung des Schlimmsten vorkommen, gehören sie dann nicht womöglich zu einer anderen Spezies? Es ist dieser Gedanke, den Wilderson in seinem jüngeren Ich langsam dämmern lässt: Vielleicht gelten Schwarze, allen humanistischen Beteuerungen zum Trotz, gar nicht als Menschen? Womöglich sind sie vor allem dazu da, dass sich andere ihres Menschseins versichern können?

Als Argument ist dieser Gedanke nur möglich, weil er „Blackness“ und „Slaveness“ für nach wie vor untrennbar verbunden hält. Vom arabischen Sklavenhandel im 7. Jahrhundert bis zum europäischen Sklavenhandel ab dem 15. Jahrhundert wird der Sklave als „Gegenstand“ behandelt. Anders als der Arbeiter verkauft er seine Arbeitskraft nicht. Er „ist“ seine Arbeitskraft. Auch wenn er letzten Endes von einer historischen Epoche spricht, behandelt er den Zusammenhang von „Blackness“ und „Slaveness“ wie ein ontologisches Faktum, könnte man einwenden. Aber wer wollte das tun?

Störenfried gegenüber einem Pakistani

Die psychische Erfahrung, die er beschreibt, ist unbestreitbar. Schwarz zu sein fühlt sich an, erzählt er in verschiedenen Episoden, als würde man nicht als Mensch betrachtet und müsse in jeder Minute seines Lebens beweisen, dass man ungefährlich sei. „Sie sollen sich sicher fühlen“ sei „die Hauptregel der internationalen Negro-Diplomatie“, heißt es in verschiedenen Variationen (und der Übersetzer tut gut daran, das im amerikanischen Kontext anders verankerte N-Wort in der Originalsprache zu belassen).

Einmal steigt der Doktorand in Berkeley frühmorgens in ein Shuttle zum Flughafen und bietet alles auf, die Stimmung im Auto zu besänftigen. Der erschrocken ungläubige Blick des pakistanischen Fahrers genügte, um sich als Störenfried zu fühlen.

Auch wenn es offensichtlich ist, dass „Afropessimismus“ keine Ontologie sein soll, sondern eine „ikonoklastische“ Betrachtungsweise, also eine Strategie, die dazu dient, die permanente Abwertung durch radikale Verweigerung umzukehren, ist die erzählerische Brillanz des Buches in gewisser Hinsicht auch ein Ablenkungsmanöver. Denn gelegentlich unterminiert die autobiografische Beglaubigung die Stringenz des theoretischen Konzepts und damit auch seine Kritikfähigkeit – selbst dann, wenn es aus strukturellen Gründen keiner weißen Person zusteht, diesen Einwand vorzubringen.

Frank B. Wilderson wurde eine Zeitlang vom FBI bespitzelt, als seine damalige Freundin eine Whistleblowerin avant la lettre wurde. Er hat bei Edward Said studiert, der ihm den Unterschied zwischen Strategie und Taktik beibrachte. Fünf Jahre lebte er in Südafrika und wurde 1992 als einer von zwei US-Amerikanern in den ANC gewählt. Als Obama Präsident der USA wurde, hatte er längst aufgehört zur Wahl zu gehen. Er habe 1994 für Mandela gestimmt, „ein Hasenfuß-Negro reicht mir“, antwortete er seiner Mutter auf die Frage, ob er ihn gewählt habe.

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„Afropessimismus“ führt mitten hinein in die Konflikte der Gegenwart, die Wilderson absichtsvoll und mit aller Berechtigung eher verschärft als befriedet. Der Tod von George Floyd und die weltweite Bewegung von Black Lives Matter hat gezeigt, wie aktuell seine „Interpretationslinse“ ist. Von politischer Versöhnung träumt er nicht. Er lässt sein Buch mit einem Liebesbrief an die verstorbene Mutter enden, mit der er sich zehn Jahre vor ihrem Tod ausgesöhnt hat. Auf einem Parkplatz in Seattle hatte sie sich einst schützend vor einen weißen Lehrer gestellt, eine Tat, die der Sohn ihr lange nicht verzeihen konnte.

Zumindest der familiäre „Zermürbungskrieg“ ist nach 40 Jahren „Schlag und Gegenschlag“ zu einem Ende gekommen. Die Frage des Selbstbildes bleibt offen: „Was tun mit einem Unbewussten, das dich zu hassen scheint?“, zitiert er David Marriotts „Haunted Life“. „Afropessimismus“ erzählt von der Lust, Probleme zu beschreiben, für die es keine Lösung gibt – das genaue Gegenteil politischen Denkens.

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