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Der Künstler Sebastian Wien hat aus zwei Halbkugelschalen und Schrauben die Corona-Skulptur "Hier und Heute" produziert.

© Bernd Thissen/dpa

Kulturpolitik und Corona: Freischaffende Künstler sind systemrelevant

Kultureinrichtungen sind keine Wirtschaftsunternehmen, die Bundesregierung muss Verantwortung übernehmen. Ein Appell.

„Denn Kultur ist kein Luxus, den wir uns leisten oder auch streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere eigentliche innere Überlebensfähigkeit sichert.“
Richard von Weizsäcker, 1991

Dieses Zitat von Richard von Weizsäcker muss gerade heute gelten, wenn Schutzschirme für alle Lebensbereiche aufgespannt werden. Dabei muss von der Einsicht ausgegangen werden, dass Kunst auf besondere Weise Daseinsvorsorge ist und eben auch auf ihre Weise systemrelevant. Man kann auf die Energie und die Impulse von Künstlern gerade jetzt nicht verzichten und man muss Vorsorge treffen, damit sie nicht in ihrer Existenz gefährdet oder gar vernichtet werden. Wir brauchen sie.

In Krisenzeiten ist ihr Beitrag zur Aktivierung von Kreativität, Urteilsfähigkeit und Nachdenklichkeit unverzichtbar. Es ist ein Irrtum, die Kunst als eine beliebige Wirtschaftsbranche unter anderen zu sehen. Das „Produkt“ ist mit keinem anderen vergleichbar. Künstler als „Solounternehmer“ haben keine Betriebskosten wie ein Unternehmer. Der Betrieb, das sind sie selbst mit ihren Honorareinnahmen, durch die sie ihren Lebensunterhalt bestreiten

Sie haben selten festen Verträge, also keine Ansprüche auf Kurzarbeitergeld, und was sollen sie mit Krediten? Ein ausgefallenes Engagement lässt sich nicht nacharbeiten. Es fällt einfach weg. Sie sind jetzt auf Unterstützung angewiesen. Und diese gibt es nicht mehr. Der Arbeitsweise freischaffender Künstler wird Unterstützung durch Arbeitslosengeld nicht gerecht. Fazit: Es gibt im Moment so gut wie keinen Rettungsschirm speziell für Künstler.

Die Coronakrise ist eine nationale Kraftanstrengung

Nur Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen versuchen es, gegen den Widerstand des Bundes. Wie lange noch? Es stimmt einfach nicht, dass das Soforthilfeprogramm des Bundes von 50 Milliarden Euro auch eine Hilfe für individuelle Künstler enthält. Hier werden Betriebskosten abgedeckt, nicht mehr. Es war ein Versäumnis, die Soforthilfe für Künstler in diesem Programm nicht zu verankern. Auch für die privaten Kultureinrichtungen, für private Theater und Museen, für die Vereine oder für gemeinnützige Kultureinrichtungen taugen Lösungen, wie sie für gewerbliche Wirtschaft geschaffen wurden, nicht.

Es fehlt eine nationale Kraftanstrengung, um Künstler und kulturelle Einrichtungen in die Zeiten nach Corona, in die Normalität hinüberzuretten. Gefordert ist ein spezieller Kulturnothilfefonds des Bundes, also ein temporärer kulturspezifischer Rettungsfonds, der die Lücken schließt, auch in Richtung auf die kulturellen Einrichtungen, der privaten wie der öffentlichen. Diese vom Deutschen Kulturrat und vom Kulturrat NRW, dessen Vorsitzender ich bin, getragene Initiative ist von der Seite des Bundes bisher ohne positives Echo geblieben.

Die Kulturstaatsministerin ist gefragt

Das ist umso erstaunlicher, als der Bund für Mehrausgaben der einzelnen Ressorts einen Fonds von 60 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt hat. Bisher ist nicht erkennbar, was davon an die Kultur geht. Wer kämpft im Bundestag jetzt für die Durchsetzung kultureller Belange? Dort gibt es doch einen Kulturausschuss. Warum setzt sich die zuständige Kulturstaatsministerin nicht an die Spitze der Bewegung?

Ich weiß als ehemaliger Bundesinnenminister, der seinerzeit auch für die Kultur zuständig war, dass es nicht einfach ist, sich mit Belangen der Kultur gegenüber den anderen Ressorts und vor allem gegenüber dem Bundesfinanzminister durchzusetzen. Die heute für die Kultur zuständige Ressortverantwortliche hat großes Gewicht. Es ist die Bundeskanzlerin! Sie ist jetzt eine gute Krisenmanagerin, aber man hat nicht den Eindruck, dass sie die besondere Situation der Kultur im Blick hat – auch nicht in ihren Reden.

Wir, die wir uns für die Kultur verantwortlich fühlen, richten den dringenden Appell an die Bundeskanzlerin, sich der Lage der freiberuflichen Künstler zu öffnen und dafür zu sorgen, dass sie in der Krise aus Mitteln des Bundes angemessen berücksichtigt werden. Kunst ist im Grundgesetz privilegiert. Aus gutem Grund. Der Staat hat sich inhaltlich nicht einzumischen. Im Kulturstaat Deutschland hat er sie zu schützen und zu fördern – auch wenn sie nur eine Minderheit erreicht.
Gerhart Baum (FDP) war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister. 1980 erhielt er das Große Verdienstkreuz. Von 2015 bis 2017 war er Vorsitzender des Aufsichtsrats des Suhrkamp Verlages.

Gerhart Baum

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