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Tim Renner, Berlins Kulturstaatssekretär, beim Richtfest der Staatsoper Unter den Linden im Juli 2015.

© dpa

Kulturpolitik: Alter Slogan, neue Aufgabe

"Kultur für alle" lautete einst die Devise der Sozialdemokratie. Was bedeutet sie heute, in diversifizierten und digitalisierten Zeiten? Ein Debattenbeitrag von Tim Renner und Thorsten Schäfer-Gümbel

Kultur für alle – seit Hilmar Hoffmann prägt dieser Leitsatz sozialdemokratische Kulturpolitik. Er stand als Überschrift über vielen positiven Entwicklungen seit den 70er Jahren. Der Kulturbegriff wurde sukzessive erweitert; Soziokultur wurde Teil des Förderkanons, kulturelle Bildung ein zentrales Arbeitsfeld, Besucherorientierung zur Pflicht, und nicht zuletzt rückten die Arbeitsbedingungen von Künstlerinnen und Künstlern in den politischen Fokus. Doch am Ziel der „Kultur für alle“ sind wir bei ehrlicher Betrachtung noch nicht angekommen. Öffentlich geförderte Kulturangebote werden nur von rund der Hälfte der Bevölkerung wahrgenommen. Trotz kultureller Bildung, trotz Soziokultur, alle erreichen wir mit unserer Kulturpolitik noch nicht.

Die Demokratisierung der Kultur, ein langer Prozess

Alle, das sind heute Menschen mit deutlich vielfältigeren Bedürfnissen. Zum einen sind wir „diverser“ geworden. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land werden größer, leider auch die Unterschiede zwischen Reich und Arm. Die Bilder von Familie und Arbeit haben sich stark gewandelt, unser Freizeit- und Kulturleben verändert sich dadurch automatisch mit. Wir sind ein Einwanderungsland, viele verschiedene Kulturen haben die hiesige Kulturlandschaft geprägt und nachhaltig verändert. Hinzu kommt, dass auch in der aktuellen Flüchtlingssituation Kultur und kultureller Austausch zum zentralen Element werden: als Schlüssel für eine starke Willkommenskultur. Als Grundstein für Verständigung und Integration.

Thorsten Schäfer-Gümbel, SPD-Vize und Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie.
Thorsten Schäfer-Gümbel, SPD-Vize und Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie.

© www.SPD-Hessen.de

Mit der Zeit haben sich die Vorstellungen der Menschen verändert, was „Kultur“ ist und wie sie mit ihr umgehen wollen. Nicht über Nacht! Vor über 100 Jahren öffnete sich der rein eurozentristische Kulturbegriff, zunächst in der Musik: Swing, Blues und Jazz schwappten nach Europa und inspirierten Millionen, über die eigene Kulturgeschichte hinauszudenken. Später hielt dann die massenweise Reproduzierbarkeit in der Kunst Einzug: Vor 50 Jahren erstellte Andy Warhol Originale per Siebdruck. Kultur für die Massen, man könnte auch sagen, die Demokratisierung der Kultur. In dieser Zeit wurden auch Fotografie und Film als Kunstsparten erkannt und begannen, ernst genommen zu werden.

Nicht alles Populäre ist schmuddelig, nicht jede Hochkultur bringt die Gesellschaft voran

Vor 25 Jahren sorgte dann die Digitalisierung vollends für die Globalisierung der Kultur und ermöglichte durch grenzenlose Reproduzierbarkeit einen niedrigschwelligen Zugang. Heute sind wir durch die Digitalisierung auf der nächsten Stufe: der Interaktion. Die Grenzen zwischen Konsument und Produzent verwischen. Kunst kann nicht nur genossen, sondern auch im Sinne der eigenen Bearbeitung angeeignet werden.

Diese Veränderungen haben den Kulturbegriff der Menschen komplett verändert. Doch die deutsche Kulturförderung bildet dies nicht ab. Natürlich werden heute auch Jazz, Pop, Film, Avantgarde-Theater und Tanz oder Digitalkunst gefördert, doch prozentual ist ihr Anteil immer noch gering. Wenn wir dem Ziel der Teilhabegerechtigkeit näherkommen wollen ohne Abstriche in der Qualität zu machen, müssen wir unseren Kulturbegriff erweitern und modernisieren. Wir wollen nicht alles zur Kultur erklären, doch wir wollen ein breites Kulturverständnis. Nicht alles, was populär ist, ist schmuddelig. Nicht alles, was sich als Hochkultur einordnet, bringt die Gesellschaft voran. „Kultur für alle“ bedeutet heute nicht mehr, die Menschen zu erziehen, damit sie am Angebot partizipieren können, sondern das Angebot so zu gestalten, dass es die Menschen in diesem Land mit ihren Bedürfnissen erreicht, dass sie selbst Freiräume finden, sich kreativ zu betätigen.

Wir müssen uns noch stärke für die Freie Szene einsetzen

Diese Öffnung darf nicht mit stumpfer Kommerzialisierung verwechselt werden. Kunst ist frei von äußeren Zwecken, auch wenn sie viele schöne Kollateralnutzen haben kann. Es ist nur bis heute vor allem der Markt, der niedrigschwellige Angebote macht – die in der Tat zuweilen von fragwürdiger Qualität sind. Die öffentliche Hand bietet in diesem Segment nach wie vor und trotz toller Einzelbeispiele zu wenig an.

Wie können wir das ändern? Die Institutionen als Rückgrat unserer kulturellen Landschaft brauchen bei der Öffnung politische Leitlinien und Unterstützung. Zum Beispiel wenn es darum geht, neue Akteure einzubinden, Diversität in der Personalstruktur herzustellen, Kooperationen mit freien Gruppen, mit Betrieben oder der Zivilgesellschaft einzugehen. Wir müssen uns noch stärker für die Freie Szene einsetzen. Hier entstehen Experimente, Debatten, Innovationen.

Wir müssen starke Antworten auf die digitalen Fragen finden, wie Institutionen ihren Auftrag in der digitalen Welt ausfüllen, beispielsweise durch Open Cultural Data. Dies schafft Kultur für alle, unabhängig von Wohnort, Gesundheitszustand und Uhrzeit. Wir müssen noch mehr Ideen und Geld in Bildung stecken. Viel zu oft wird kulturelle Bildung, vor allem an allgemeinbildenden Schulen. vernachlässigt und hört mit dem Abschlusszeugnis ganz auf. Die Förderung von Neugierde, Kreativität und Toleranz sollte uns aber ein Leben lang begleiten.

Und wir müssen mit unserer Kulturpolitik ein stärkeres Bindeglied zwischen Sozialem, Wirtschaft und Bildung darstellen – gerade jetzt, in Zeiten, die von Spaltungen und Konflikten geprägt sind. Wir brauchen eine ermöglichende Kulturpolitik, um „Kultur für alle“ wahrzumachen.

Tim Renner ist Kulturstaatssekretär des Landes Berlin, Thorsten Schäfer-Gümbel stellvertretender SPD-Vorsitzender und Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie.

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