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Blaues Blut. Die niederländische Königsfamilie im Urlaub.

© Koen Van Weel/dpa

Kulturgeschichte der Familie: Das Kapital fließt durch die Adern

Von Mythologie bis Biologie: Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun untersucht in ihrem opulenten Band "Blutsbande" das Konstrukt der Verwandtschaft.

Ödipus, der unwissentlich seinen Vater erschlägt. Orest, der Muttermörder. Medea, die ihre Kinder tötet. Die Mythologie kennt viele solcher Geschichten, und in der Schule lernt man, dass unschuldig schuldig Gewordene tragische Helden oder Heldinnen sind. Besonders tragisch wird es, wenn die Schuld mit dem Blut der Familie verknüpft ist. „Blut ist ein ganz besonderer Stoff“, wusste schon Mephisto, als er Faust den Pakt mit Blut unterschreiben ließ. Dabei ist das, was wir selbstverständlich als Blutsbande annehmen, gar nicht so natürlich, sondern nur die „Camouflage einer Idee, die ihre eigene Abstraktheit vergessen machen möchte, damit sich die Idee in der Welt verankern kann.“

Das jedenfalls behauptet Christina von Braun, die die biologische Bedingtheit von Geschlecht ebenso hinterfragt wie die von Verwandtschaft. Was die Berliner Kulturwissenschaftlerin in ihrem opulenten Band „Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte“ vorgelegt hat, fordert der Leserschaft einiges ab. Ihr Gang durch eine über 2000-jährige Geschichte folgt nicht in erster Linie dem materiellen Stoff, sondern der Bindungskraft und Metaphorik des Bluts, wie sie sich aus der Religion, der Schriftkultur und dem Geld ableiten, mediale Figuren, die dennoch umwälzende Tatsachen hervorgebracht haben.

Der Mehrheit der Menschen ist biologische Verwandtschaft egal

„Die Mehrheit der Menschen“, so leitet sie ihre Untersuchung ein, „geht nicht davon aus, dass sich die Verwandtschaft durch Blutsbande konstituiert.“ In vielen Kulturen fühlen sich Menschen verwandt, weil sie zusammen wohnen, sich vom gemeinsamen Boden ernähren, zusammen arbeiten oder die Verantwortung für Kinder übernehmen. Sie verweist dabei auf vielfache ethnologische Erkenntnisse indigener Gemeinschaften, die sich vorrangig über soziale Netzwerke konstituieren.

Die soziale Verwandtschaft hat einen guten Grund, denn bis vor wenigen Jahrzehnten war die Herkunft des Kindes auf die Mutter zurückzuführen, der leibliche Vater blieb dagegen vage. Dieser pater incertus, der unsichere Vater, ist der Ausgangspunkt von Brauns bis in die Antike zurückreichende detektivische Schürfarbeit. Wie kam es, dass das Judentum zur matrilinearen Abstammung überging und bis heute daran festhält, während das Christentum die Patrilinearität zum leitenden Prinzip erhob? Zumal die Antike andere und stärkere Verwandtschaftsbindungen kannte und etwa ein adoptierter Sohn mehr Rechte beanspruchen konnte als ein leiblicher.

Judentum und Christentum, Mutter und Vater

Diese unterschiedlichen Entwicklungen führt Christina von Braun auf die residuale Situation des Judentums zurück, das nach dem Exodus nur auf die Thora, das „portative Vaterland“, zurückgreifen konnte und deshalb, wenn man so will, einer zusätzlichen Erdung bedurfte, um den Zusammenhalt des jüdischen Volkes zu garantieren. Das war nach Lage der Dinge die Mutter. Im antiken Griechenland dagegen entwickelte Aristoteles seine exklusive Zeugungstheorie, nach der der „geistige“ Samen zum Beweger allen Lebens wird. Er lieferte das Ideen-Gefäß, das das in Konkurrenz zum Judentum stehende Christentum übernahm. Höhere Weihen verlieh dieses der Patrilinearität, indem es die väterliche Blutslinie aus dem Blut Christi ableitete, mit allen verhängnisvollen Folgen: dem „blauen Blut“ des Adels und der Vererbung von Titeln, Besitz und Ämtern. „Das Kapital fließt in den Adern“ ist das einschlägige Kapitel über die Selbstreproduktion der Eliten überschrieben.

Legitimiert wurde dies einzig durch einen administrativen Schriftakt, die „rote Tinte“, wie es die Autorin nennt, durch den die väterliche Weitergabe kodifiziert wird. Die Grundlage schuf das griechische Alphabet, das im Unterschied zum Hebräischen auch Vokale kennt und nicht auf die – weiblich konnotierte – Mündlichkeit angewiesen ist. Es bedurfte also keiner mündlichen Überlieferung, sondern nur noch eines Schriftstücks, um Erblinien zu naturalisieren. Das ist insofern bemerkenswert, als Schrift und Geld, die diesen Abstraktionsschub beförderten, eine religiöse beziehungsweise kulturelle Leistung in „Biologie“ ummünzen konnten. Den Folgen für die Frauen, die sukzessive aus den Erbschaftsregeln ausgeschlossen wurden, geht sie ebenso nach wie den kollektiven Imaginationen vom „blutsreinen“ Kollektivkörper, die die rassistischen Theorien seit dem 19. Jahrhundert ausbildeten und das „böse“ vom „guten“ Blut trennten.

Das historische Detail bleibt auf der Strecke

Der theoretische Baukasten, den die Autorin dafür in Anschlag bringt, ist enorm: Marcel Mauss’ Theorie des Gabentauschs spielt ebenso eine Rolle wie die Semiotik der Verwandtschaft von Claude Lévi-Strauss oder Vilém Flussers Texttheorien, von unzähligen ethnologischen und genderfokussierten Studien abgesehen. Als ausgewiesene Kulturwissenschaftlerin pocht Christina von Braun nachdrücklich darauf, dass nicht nur materielle Tatsachen die Welt verändern, sondern auch mediale Techniken wie die Religion oder die Schrift.

Angesichts solch groß ausgelegter kulturhistorischer Linien, die auch tief in die Geschichte des Judentums verweisen, bleibt gelegentlich das historische Detail auf der Strecke, und die Analyse wird grobkörnig. Historikerinnen würden anmerken, dass die Zuständigkeit der Frauen für Care, die häusliche Fürsorge, weit mehr war als nur ein „Effekt des Erbrechts“, wie Christina von Braun schreibt. Und die These, dass mit dem Verschwinden des Unterschichts-Vaters aus der familiären Verantwortung der Staat Obhut und Sorge über die Kinder übernommen habe, würde der Verband alleinerziehender Mütter und Väter wohl auch nicht unterschreiben, allem Unterhaltsvorschuss zum Trotz.

Auch Genetik basiert auf einem Zeichensystem

Was aber passiert mit dem pater incertus, seitdem er 1984 mit dem Vaterschaftstest dingfest gemacht werden kann, und was mit den Blutslinien, seitdem das „Genkapital“ die Verteilung von Lebenschancen übernommen hat? Wie Schrift und Geld basiert auch die Genetik auf einem Zeichensystem, dem „Buch des Lebens“, das die religiöse Erbschaft zwar übernommen hat, aber auch überbietet. Denn sie wirkt, anders als etwa die Religion, unmittelbar auf die Physiologie ein. Die „guten Gene“ sind sozialer Platzhalter, biologische Anlagen Kapital und machen der väterlichen „Blutslinie“ Konkurrenz.

Der nun zweifelsfrei blutsverwandte Vater gerät unter Druck durch das Labor der Reproduktionsmediziner, in denen die Gene wild zusammengemischt werden mittels Fremdsamens, abgegebener Eizellen oder Tragemütter, nicht zu reden von der gar nicht so fernen Möglichkeit, den aristotelischen Traum sich selbst befruchtender Individuen. Für die als „natürlich“ erkannten Verwandtschaftsverhältnisse hat das weitreichende Folgen, mit denen sich derzeit zahlreiche Ethiker und Familienrechtler herumschlagen.

Der Lektüre ist nicht immer leicht zu folgen

Dass aber Patchwork-Familien oder kollektive Elternschaft die Familie als solche bedrohen, hält auch Christina von Braun für wenig wahrscheinlich, vielmehr gehe die „geistige Vaterschaft“ nun an diejenigen über, die das Leben in vitro im Reagenzglas kontrollieren. Andererseits wird die Vorstellung von der Reinheit des Bluts und der Reinheit der Nation durch die genetische Herausforderung auch etwas erschüttert, nur so lässt sich der aktuelle Aufstand der „Identitären“ erklären.

Christina von Braun macht es einem nicht immer leicht, ihren weitverzweigten Ausführungen zu folgen und man wünschte, sie würde manche Floskeln („es ist kein Zufall...“, was dieser und jener „nicht erwähnt“) vermeiden. Doch sie nimmt, wer sich darauf einlässt, mit auf ein Wasser, das alles „dicke Blut“ verflüssigt und auflöst in das, was es ist: eine durchaus interessengeleitete kulturelle Konstruktion.

Christina von Braun: Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 537 S., 30 €.

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