zum Hauptinhalt
Wer hat hier den besseren Friseur? Diese Frage hat Charles Darwin nie gestellt.

© mauritius images

Kulturanthropologie: Altruismus, Alter!

Der Neurowissenschaftler Michael Tomasello erforscht, was den Mensch zum Menschen werden lässt. Eine Rezension.

Von Caroline Fetscher

A mentsh, ein Mensch: Im jiddischen Sprachgebrauch, inzwischen auch im amerikanischen Englisch, bedeutet „a mentsh“ so viel wie eine gute, eine empathische, moralisch verlässliche Person. Zu dieser Bedeutung haben Jahrhunderte der Erfahrung mit Verfolgung und Ausgrenzung beigetragen. Es kann über Leben und Tod entscheiden, ob jemand „a mentsh“ ist.

Wo Evolutionstheorie oder Neurowissenschaft „Was ist der Mensch?“ fragen, geht es auf den ersten Blick um grundsätzlich andere Definitionen, um die Suche nach der Genese der Gattung, nach anthropologischen Konstanten und dergleichen. Was unterscheidet Menschen von Menschenaffen? Was Natur von Kultur?

Ein Jahrzehnt lang erkundete der Neurowissenschaftler Michael Tomasello, geboren 1950 in Florida, am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig das Verhalten von Vorschulkindern und jenes von Schimpansen angesichts gleicher Aufgaben. „Kultursensibel“ und „nicht invasiv“ seien die Methoden der Experimente. Die Ergebnisse legt der Forscher nun in einem Buch vor.

Affen kooperieren, Affen spielen, Affen kommunizieren, sie bilden Gruppen mit Hierarchien, belohnen, sanktionieren einander und verwenden einfache Werkzeuge. Anders als Affen jedoch entwickeln Menschen bald nach der Geburt emotionale, soziale Impulse, die über das äffische Spektrum hinausreichen. Sie lächeln. Sie brauchen und suchen Bindungen, sie wollen sich mitteilen.

[Michael Tomasello: Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese. Aus dem amerikanischen Englisch von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 542 Seiten, 34 €.]

Wie wird das Du zum Wir?

„Guck mal!“, ruft das Kind und zeigt auf einen Baum, einen Vogel, ein Auto: Das Kind-Ich teilt das Interessante mit dem Du, woraus ein „Wir“ wird: Wir sehen, erfahren gemeinsam. Kooperation bis hin zur hochspezialisierten Arbeitsteilung und Planung ist ein „Merkmal Mensch“, das jetzt, in der Pandemie, besonders deutlich hervortritt.

Tomasello arbeitet mit Tabellen, Statistiken, ordnet den Altersstufen Kompetenzen zu, und bezeichnet, wie erworben wird, was den Menschen ausmacht: sich vorstellen, was andere denken, empfinden, kulturelles und kooperatives Lernen, Spracherwerb, soziale Normen und individuelle Verantwortung, die beim Kind mit sechs bis sieben Jahren einsetzt. Diese Beobachtungen, suggeriert Tomasello, halten interkulturellen Vergleichen stand.

Doch welchen Gebrauch eine Gesellschaft von ihrer Fähigkeit zur Kooperation macht, welche Systeme aus Normen und Rechten sie installiert, darauf kommt es sozial und politisch an, und hier gibt es keine anthropologischen Konstanten, hier gilt Kultur, nicht Natur. Wo Affen in der Kooperation nur ihren Vorteil suchen, können Menschen auch altruistisch handeln.

Ideologische Antworten auf die Evolutionstheorie gibt es seit Darwin. Ihre Theoreme wurden und werden missbraucht im Rassismus, abgelehnt als Blasphemie im religiösen Fundamentalismus, und von Sozialwissenschaftlern wegen der Gefahr deterministischer Deutungen beargwöhnt. Tomasellos Blickt richtet sich denn auch nicht auf die Genese von Gräueltaten sonst durchaus kooperierender Erwachsener.

Sein Fokus liegt auf der frühen Entwicklung der Psyche des Menschen. Dabei bleibt Tomasellos Ansatz frei genug, um aufklärerisch zu wirken und Neugier zu wecken, während am Ende, wie er einräumt, viele Fragen offen bleiben. Wie es gelingt, dass aus einem Kind „a mentsh“ wird, und was Gesellschaften friedfertig macht, das kann die Primatenforschung kaum erfassen. Diesen Anspruch erhebt Michael Tomasello auch erst gar nicht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false