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Kultur in Zeiten von Corona: Geschlossene Theaterkasse in Berlin

© Imago/IPON/Stefan Boness

Kultur im Corona-Lockdown: Was uns verloren geht, wenn uns die Kunst verloren geht

Die Existenz der Veranstaltungsbranche steht auf dem Spiel. Es drohen Verarmung, Verödung, Verblödung. Und noch viel mehr. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gregor Dotzauer

Zweimal in den vergangenen Wochen rollte eine Walze der Empörung durch die Republik. Erst las der Jazztrompeter Till Brönner der Politik die Leviten und warf ihr vor, die Kunst im Stich zu lassen. In einem millionenfach geklickten Video appellierte er aber auch an seine Kollegen und Kolleginnen, sich nach acht Coronamonaten nicht länger kleinlaut zu zeigen: Eine ganze Branche stehe am Abgrund.

Wenig später sekundierte Herbert Grönemeyer in der „Zeit“ und forderte eine Solidaritätsabgabe der Superreichen – nicht zuletzt im Dienst des nationalen Zusammenhalts: „Ein Land ohne die so unmittelbare Livekultur gibt und öffnet den Raum für Verblödung, krude und verrohende Theorien und läuft Gefahr, nach und nach zu entseelen.“

Der neuerliche Lockdown hat das Aufbegehren erstickt. Das Publikum lebt weiter von Konserven, und die Künstler starren deprimiert in einen Tunnel, an dessen Ende wahrscheinlich auch im Dezember noch kein Adventslicht zu sehen ist. Doch was genau geht hier eigentlich verloren?

Die ökonomischen, stadtplanerischen und psychohygienischen Gefahren von Verarmung, Verödung und Verblödung sind offensichtlich. Sie fallen unter das fragwürdige Kriterium der Systemrelevanz. Auch die Sorge um den sozialen Frieden ist nachvollziehbar: Ohne Brot, Toilettenpapier und Spiele hat keine Regierung eine Chance. Die Sorge um die Kunst kann darin aber nicht aufgehen.

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Mehr als zielgruppengenaue Unterhaltung

Es geht um eine Kunst, die mehr ist als bloße Ablenkung von den Nöten des Alltags und zielgruppengerechte Unterhaltung. Eine Kunst, die sich in Analogie zur Wissenschaft als Forschung versteht und in sämtliche anthropologischen und sozialen Tiefen hineinleuchtet. Eine Kunst, die zugleich heraustritt aus dem Diktat der politischen Aktualität, ohne deshalb unpolitisch zu sein. Eine Kunst, die weiß, was ekstatische Verausgabung ist.

Eine Kunst, die auch in finsteren Zeiten noch finsterer als die Wirklichkeit sein darf, weil ihre Schönheit nur taugt, wenn sie über dem Tröstlichen das Beunruhigende nicht vergisst – und das durchaus gegen die Erwartung eines reibungslos funktionierenden Systems.

Man kann all das nur vermissen, wenn man einmal erlebt hat, wie sich eine solche Kunsterfahrung anfühlt. Und gerade ist es unmöglich, daran teilzuhaben, wie eine hunderttausendfach aufgeführte, längst zum Klingelton herabgewürdigte Beethoven-Symphonie in dem Moment, in dem der Dirigent den Taktstock hebt, von Grund auf neu erschaffen wird und einen aufwühlen und beglücken kann.

Ritual und Resonanz

Wie sich Jazzmusiker im Lauf eines Abends gemeinsam improvisierend über die eigenen Grenzen hinaustragen lassen. Oder wie ein Rockgitarrist mit seinem Solo selbst dem abgenudeltsten Song eine überraschende Bedeutung abringt. All diese Phänomene beruhen auf einer schwer berechenbaren Resonanz zwischen Künstlern und Publikum, die nicht durch bloße Rituale entsteht.

Was für die Musik in besonderem Maße gilt, trifft auch auf andere Bereiche zu. Kein Schauspieler, der einen Shakespeare-Monolog für sich so sprechen könnte, wie es ihm vor einem vollen Saal gelingt; keine Schriftstellerin, die bei einer Lesung nicht neugierigen Zuhörern beflügelt würde; vielleicht nicht einmal ein Maler, der nicht insgeheim den Blick eines Anderen auf das entstehende Werk spüren würde. Vor allem: Kein Publikum, das sich nicht als Teil eines magischen Bands empfinden würde.

Der Philosoph Theodor W. Adorno, in seiner Verachtung für (fast) alles Populäre ein hoffnungslos bornierter Elitist, aber sicher einer der tiefgründigsten Kunsttheoretiker des letzten Jahrhunderts, schrieb einmal: „Kunst will das, was noch nicht war, doch alles,was sie ist, war schon. Den Schatten des Gewesenen vermag sie nicht zu überspringen. Was aber noch nicht war, ist das Konkrete.“

Das bringt die Herausforderung auf den Punkt. Es wird sich zeigen, wem dieses Konkrete, das es immer wieder neu herzustellen gilt, nach Corona fehlt.

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