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Ein unbeobachteter Moment. Passantin in New York, von Vivian Maier um 1960 fotografiert.

© AFP

Künstler-Doku "Finding Vivian Maier": Ein Phantom, eine Person

Vivian Maier arbeitete als Kindermädchen in New York und Chicago. Nebenher fotografierte sie obsessiv. Der Dokumentarfilm "Finding Vivian Maier" erzählt die unglaubliche Geschichte einer Künstlerin, die erst posthum berühmt wurde.

Die Selbstporträts zeigen eine hochgewachsene, schmale Frau in etwas zu weiten Kleidern, manchmal mit einem etwas zu großen Hut. Ihr Mund ist ein Strich. Nie lächelt sie. „Exzentrisch“ sei sie gewesen, sagen Leute, die sie kannten. Verschlossen, misstrauisch und furchtlos. „Sie war unglaublich einsam“, konstatiert eine Freundin, „und fühlte sich total missverstanden.“ Vivian Maier war aber auch eine große Fotografin. Nur wusste davon keiner.

Ihren Ruhm hat Maier nicht mehr erlebt. Als sie im April 2009 mit 83 Jahren in Chicago starb, hinterließ sie viele Kisten, in denen gewissermaßen ihr ganzes Leben steckte. Aufzeichnungen, Briefe, Kleidung, Quittungen, Broschüren, U-Bahn-Tickets, sogar nicht eingelöste Schecks. Und unzählige Negative und Filme, die noch nicht entwickelt waren. In einer Filmdose befand sich etwas, das beim Schütteln klapperte. Es waren Teile eines Gebisses.

Ein Karton voller Negative für 380 Dollar

Die beinahe unglaubliche Geschichte von der posthumen Entdeckung einer Meisterfotografin begann, als ein junger Immobilienmakler bei einer Versteigerung für 380 Dollar einen Karton voller Negative erwarb. „Ich wusste nicht, ob die Bilder gut waren, aber sie gefielen mir“, erzählt John Maloof. Der Auktionator nannte ihm den Namen der Fotografin: Vivian Maier. Doch im Netz ließ sich nichts über diese Frau finden.

Als hätte sie nie gelebt. Deshalb scannte Maloof zweihundert Bilder und stellte sie auf ein Fotoportal im Web, zusammen mit der Frage: „Was soll ich mit dem Zeug tun?“ Die Reaktionen waren begeistert. So begann das, was Maloof seine „Mission“ nennt. Er kaufte große Teile des übrigen Nachlasses von Vivian Maier, organisierte Ausstellungen, widmete ihr einen Weblog und versuchte, mehr über sie herauszufinden.

John Maloof macht aus einem Phantom eine Person

„Finding Vivian Maier“ heißt der Dokumentarfilm, den John Maloof jetzt zusammen mit dem Fernsehproduzenten Charlie Siskel gedreht hat. Maloof steht in vielen Szenen selbst vor der Kamera, und weil er ein tatendurstiger, oft aufgekratzt agierender Mensch ist, wurde aus seiner Spurensuche ein temporeicher, niemals langweiliger Film. Es ist der Versuch, aus einem Phantom wieder eine Person zu machen. Maloof gelang es, Dutzende von Zeitzeugen aufzutreiben, die etwas über Maier berichten konnten.

Viele von ihnen sind überraschend jung. Denn Maier arbeitete als Kindermädchen, und ihre ehemaligen Zöglinge haben noch lebhafte Erinnerungen an sie. An die klobigen Männerstiefel, die ihre Nanny trug. An die langen Ausflüge, die sie mit den Kindern unternahm. „Wir machten Exkursionen in die schlimmsten Ecken der Stadt“, sagt eine Frau. „Und während sie Fotos machte, liefen wir einfach herum.“ Als einmal ein Junge namens Robby von einem Auto angefahren wurde, half sie ihm nicht. Stattdessen fotografierte sie den Polizeieinsatz. Sie ging auch mit Kindern zum Schlachthof.

Vivien Maier, die Spionin

„Ich bin eine Art Spionin“, so hat Vivian Maier sich gegenüber Fremden vorgestellt. Sie arbeitete mit einer Rolleiflex, bei der der Sucher sich auf der Oberseite befindet. So lässt sich ein Blickkontakt mit den Personen vermeiden, die man aufnimmt. Fotos entstehen unbemerkt. Maier, die 150 000 Negative hinterließ, nahm in Chicago und New York zerzauste Liebespaare, aufgetakelte Societyladies, zahnlos grinsende Obdachlose und würdevoll versteinerte Pensionäre auf. Ihre Straßenfotografie kann sich mit Werken von Robert Frank oder Diane Arbus messen.

Bis ins französische Alpenvorland ist Maloof der Biografie seiner Protagonistin hinterhergereist. Maier wurde in New York geboren, aber ihre Mutter stammte aus einem Nest in der Provence. Dort lebt noch ein Cousin, und die alten Leute wundern sich noch immer über die einstige Besucherin, die Berge und Menschen fotografierte. Bis dahin hatte es dort Fotografen nur bei Hochzeiten gegeben.

Im Alter war Vivian Maier nicht mehr seltsam, sondern schrullig. Sie warf nichts weg, in ihrer Wohnung stapelten sich Zeitungen, zwischen denen nur schmale Gänge frei blieben. Manchmal schlug sie die ihr anvertrauten Kinder. „Sie wollte Dinge vor dem Vergessenwerden bewahren. Das ist ihr gelungen“, sagt der Regisseur. Aber ging es der Fotografin, die nie eines ihrer Bilder zeigte, nicht um das Gegenteil: auch selbst vergessen zu werden?

Blauer Stern, Capitol, Cinema Paris, Filmtheater Friedrichshain, Hackesche Höfe, International, Neues Off (alle OmU)

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