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Porträts von Anne Frank im Anne Frank Haus in Amsterdam.

© Anne Frank House, Cris Toala Olivares

Kritik an dem Buch „Verrat an Anne Frank“: Verlag stoppt weitere Auflage

Fehler und unsaubere Recherche: Der niederländische Verlag Ambo Anthos stoppt weitere Auflage von „Verrat an Anne Frank“.

Der niederländische Verlag Ambo Anthos setzt eine weitere Auflage des im Januar veröffentlichten Buches „Verrat an Anne Frank“ aus. Die Recherche-Grundlage des von der kanadischen Autorin Rosemary Sullivan publizierten Buches ist von Historiker:innen scharf kritisiert worden. Ein „Cold-Case“-Team hatte fünf Jahre lang Ermittlungen dazu angestellt, wer das Versteck von Anne Frank in Amsterdam 1944 an die Nazis verraten hat. Zuletzt veröffentlichten sie einen Namen. Ein jüdischer Notar soll den Verrat begangen haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass er es gewesen sei, betrage „mehr als 85 Prozent“, sagte der Leiter des Recherche-Teams und ehemaliger FBI-Agent Vince Pankoke.

Etliche internationale Medien hatten das Buch zunächst unkritisch entgegengenommen. Nun steht der Vorwurf im Raum, das gesamte Rechercheprojekt, initiiert von einem niederländischen Filmemacher und einem Journalisten, sei eine PR-Aktion gewesen. Yves Kugelmann, Sprecher und Stiftungsratsmitglied des in Basel angesiedelten Anne-Frank-Fonds, sagte der „Süddeutschen Zeitung“: „Diese Leute haben vom Thema keine Ahnung und präsentieren ein kommerzgetriebenes Projekt für die Kulisse und nicht für die Sache.“ Kugelmann hält die Hauptaussage des Buches, ein Jude habe Anne Frank verraten, angesichts der unsauberen Recherche für „eine der fulminantesten Verschwörungsmythen und wirkungsvollsten Antisemitismus-Booster seit Langem“.

Mit neuesten technischen Mitteln, Datenanalysen und künstlicher Intelligenz hatte das Cold Case-Untersuchungsteam Zehntausende von Dokumenten ausgewertet. Das 200 Kopf starke Truppe listete auch namhafte Historiker:innen auf und dankte Ihnen für ihre Mitarbeit. Viele der Genannten wüssten aber nichts von dem Cold Case-Team, enthüllte nun die niederländische Tageszeitung „Trouw“. Das entscheidende Beweisstück, die Abschrift eines anonymen Briefes an Anne Franks Vater – den einzigen Überlebenden der Familie – wurde laut eines dpa-Berichts schon in den 1960er Jahren untersucht. Die damals unaufgeklärten Fragen bleiben allerdings auch heute ohne Antwort. Wer hat den anonymen Brief geschrieben? Und warum? Sollte da jemand aus Rache angeschwärzt werden?

Der beschuldigte Notar war Mitglied des Jüdischen Rates, der nach Darstellung des Cold Case-Teams über Listen mit hunderten Adressen von untergetauchten Juden und Jüdinnen verfügte. Nur: Es gibt keine Beweise, dass der Jüdische Rat, der von den Deutschen zwangsweise eingesetzt worden war, überhaupt solche Listen geführt hatte. So sagt der Amsterdamer Professor für Holocaust- und Genozidstudien Johannes Houwink ten Cate: „Davon hab ich in 35 Jahren Forschung noch nie etwas gesehen.“ Sein Kollege Bart van der Boom von der Universität Leiden sprach von „verleumderischem Unsinn“. Er ist Experte für die Geschichte des Jüdischen Rates, war aber vom Cold Case-Team nicht zu Rate gezogen worden.

Der Notar selber war zum Zeitpunkt des Verrats im August 1944 bereits mit seiner Familie untergetaucht, das geht aus einer Dissertation hervor. Jeder Kontakt mit dem deutschen Sicherheitsdienst hätte nur die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. Ein Todesurteil. Die Studie über den Notar aber hatte das Cold Case-Team gar nicht gelesen. Die Fehler hätten vermieden werden können, wenn man das Buch vorher Historikern zum Gegenlesen vorgelegt hätte. Doch nur einige wenige ausgewählte Medien hatten es vorab erhalten mit einer sehr strengen Geheimhaltungsklausel.

Der Verlag, der die niederländischen Rechte des Buches besitzt, räumte in einem internen Schreiben an seine Autoren ein, dass „eine kritischere Haltung hier möglich gewesen wäre“. Er forderte das Untersuchungsteam auf, sich zu der Kritik zu äußern. Jürgen Welte vom Harper Collins Verlag, der die deutsche Übersetzung des Buches im Februar herausbringen wollte, kündigt eine interne Überprüfung der Inhalte an. Ob die Veröffentlichung verschoben wird, ist laut Informationen der „Deutschen Welle“ noch nicht bekannt.Hanno Rehlinger (mit dpa)

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