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US-Streitkräfte testen einen konventionellen landgestützten Marschflugkörper.

© Scott Howe/DoD via dvids/dpa

Krisen, Kriege und Konflikte: Die Welt braucht eine Ordnungsmacht – doch die fehlt

Die USA haben sich von der Rolle des Polizisten verabschiedet, China sucht nach regionaler Dominanz. Was kann Europa tun? Ein Gastkommentar.

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler veröffentlichte bei Rowohlt zuletzt den Band „Der Dreißigjährige Krieg“.

Die Welt ist „aus den Fugen“: Auf diese Formel hat das Auswärtige Amt bereits vor Jahren die Entwicklung der globalen Konstellationen gebracht. Seitdem ist die Lage eher bedrohlicher als stabiler geworden. Von der koreanischen Halbinsel über den indisch-pakistanischen Konflikt um Kaschmir, die sich periodisch zuspitzende Lage am Persischen Golf und die Kriege in Syrien und im Jemen bis zur Ostukraine zieht sich ein Krisenbogen, in dem bewaffnete Konflikte entweder vor sich hin schwelen oder an der Schwelle zum offenen Krieg dahintaumeln.

In einigen Fällen steht die Gefahr einer nuklearen Eskalation bedrohlich im Hintergrund: In Kaschmir konkurrieren zwei Atommächte, und bei Nordkorea wie dem Iran soll verhindert werden, dass zu den vorhandenen Nuklearmächten noch weitere hinzukommen.

Herfried Münkler, Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Herfried Münkler, Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin.

© Thilo Rückeis

Die Politik der Nonproliferation von Nuklearwaffen steht jedoch auf schwachen Beinen, seit sich in der Ukraine gezeigt hat, was ein übermächtiger Gegner mit einem Land machen kann, das keine Atommacht ist – wobei die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion für kurze Zeit eine Atommacht war, und was zu bleiben sie aufgegeben hat, um den Kreis der Atommächte nicht weiter zu vergrößern. Die ihr dafür gegebenen Sicherheitsgarantien haben sich bei der Annexion der Krim als wertlos erwiesen. Daraus haben so manche ihre Schlüsse gezogen: Nur wer die Nuklearoption hat, ist wirklich sicher.

In einer zunächst recht groben Gegenüberstellung lassen sich zwei Typen regionaler wie globaler Ordnungen unterscheiden: solche, die selbstregulativ und zumeist an den Vorgaben eines Gleichgewichts orientiert sind, und solche, in denen es einen Hüter gibt, der dafür sorgt, dass die grundlegenden Prinzipien und Regeln der Ordnung beachtet und befolgt werden. In der politischen Realität sind eine Reihe von Kombinationen und Mischformen dieser beiden Grundtypen zu beobachten. Die Ost-West-Konstellationen sind ein Beispiel dafür.

Die Rolle des Hüters ist den USA zu teuer geworden

Während es im Verhältnis beider Systeme zueinander um ein militärisches Gleichgewicht ging, sorgten innerhalb der Systeme deren jeweilige Hüter, die USA und die UdSSR, auf unterschiedliche Art und mit verschiedenen Mitteln für die Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse. Sie waren Hüter einer regionalen Ordnung.

Als das militärische Gleichgewicht ins Schwanken geriet, brach das Sowjetimperium mitsamt seinen Bündnisstrukturen binnen kürzester Zeit zusammen. Es folgten etwa zwei Jahrzehnte einer unipolaren Ordnung, in der die USA – teilweise im Zusammenspiel mit den Vereinten Nationen, mitunter auch im Alleingang – die Rolle des Hüters einer globalen Ordnung einnahmen

Unter dem jüngeren Bush haben sie sich damit überfordert; unter Obama versuchten sie diese Rolle weiterzuspielen, aber vorsichtiger und zurückhaltender; unter Trump haben sie sich krachend aus ihr verabschiedet. Die Rolle eines Hüters der Ordnung ist teuer, und sie ist dem Teil der US-Wähler, der Trump ins Präsidentenamt brachte, zu teuer geworden. „America first“ war die Formel für den Rückzug aus dieser Position.

Die allenthalben zu konstatierende Häufung von Konflikten und Kriegen resultiert im Wesentlichen daraus, dass wir es mit einer Weltordnung zu tun haben, die einen Hüter braucht, es inzwischen aber keinen mehr gibt, der diese Rolle übernehmen kann und übernehmen will.

Lange glaubte man, China werde an die Stelle der USA treten

Daraus resultiert auf der einen Seite Unsicherheit, die ihren Niederschlag nicht nur in global ansteigenden Militärausgaben, sondern auch im Streben einer Reihe von Staaten nach Atomwaffen und entsprechenden Trägersystemen findet, und auf der anderen Seite der Versuch einiger Mächte, sich in der Zeit des Verfalls einer Ordnung so viele Vorteile wie möglich zu verschaffen, die bei der Entstehung einer neuen Ordnung dann behalten oder als politisches Pfand eingesetzt werden können. Die gegenwärtige Häufung der Konflikte wäre somit eine Begleiterscheinung für die Transformation der Weltordnung und der ihr zugrundeliegenden Prinzipien.

Aber ist das wirklich so? Für einige Zeit herrschte die Auffassung vor (und teilweise ist das immer noch der Fall), nicht die Ordnung selbst werde sich ändern, sondern nur die Position der dominierenden Übermacht werde neu besetzt. China werde an die Stelle der USA treten. Diese Diagnose gründete sich auf den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas während der letzten vier Jahrzehnte und auf das politisch selbstbewusste Auftreten des Reichs der Mitte, das zuletzt auch im Seidenstraßenprojekt seinen Ausdruck gefunden hat.

Sieht man genauer hin, so zeigt sich indes, dass es dabei um regionale Vorherrschaft und nicht um globale Ordnung geht. China baut seine Dominanz über Zentralasien aus, was sicherlich Folgen für die Weltordnung insgesamt hat, aber vor allem die zwei anderen großen asiatischen Vormächte Indien und Russland betrifft. Der Anspruch auf die Rolle eines Hüters der globalen Ordnung ist nicht erkennbar – und er würde Chinas Leistungsfähigkeit auch überfordern.

Die Europäer stehen hilflos da

Der relative Niedergang der USA und der relative Aufstieg Chinas vollziehen sich also nicht in demselben Ordnungsmodell. Die USA standen für eine wesentlich auf wirtschaftlicher Verflechtung begründete, der Idee nach an demokratischen Prinzipien orientierte und normativ auf eine Reihe von Grundrechten gestützte Ordnung. Sie haben sich selbst keineswegs stets an diese Vorgaben gehalten, aber diese stellten immerhin den Normhorizont ihrer Politik dar. China dagegen steht für eine räumlich begrenzte Ordnung, die wesentlich an den eigenen Interessen ausgerichtet ist.

Will man hinter dem mitunter chaotischen Agieren Trumps eine Strategie ausmachen, so besteht sie in einer Rollenangleichung der USA an die Vorgaben Chinas. Daraus ist ein Konflikt zwischen den beiden erwachsen, in dem sie ihre je eigenen Interessen gegen die des anderen durchzusetzen versuchen. Die Grundsätze der alten Weltordnung sind nur noch ideologisches Spielmaterial beim Einwerben von Bündnispartnern.

Dementsprechend schwach, um nicht zu sagen hilflos, stehen jene Europäer da, unter ihnen namentlich die Deutschen, die an den Prinzipien und Regeln der alten, auf ökonomische Verflechtung hin angelegten und auf Werte gegründeten Weltordnung festhalten. Sie sind zurückgeworfen auf die Rolle eines Mahners und Warners, was klassisch eine Beobachter–, aber keine Politikeraufgabe ist.

Sie kommentieren die Entwicklung, greifen in deren Fortgang aber nicht ein, und sind damit zu Nostalgikern an der Peripherie des Geschehens und Lyrikern der politischen Hilflosigkeit geworden. Das zeigt sich sowohl bei dem Versuch, das Atomabkommen mit dem Iran doch noch zu retten, als auch bei dem Bemühen, den Krieg in der Ostukraine zu beenden und Russland, man weiß nur nicht wie, zur Rückgabe der Krim an die Ukraine zu bringen.

Dementsprechend klammert man sich an wirtschaftliche Sanktionen, von denen man zugleich weiß, dass sie keinerlei politische Wirkung zeitigen werden. Politischen Einfluss auf das Agieren der Konfliktparteien bekommt man auf diese Art und Weise jedenfalls nicht, und die kriegerischen Konflikte folgen ihrer eigenen Dynamik.

Die neue globale Ordnung bedeutet Aufrüstung

Vermutlich empfinden viele Europäer die Häufung der Konflikte und Kriege auch darum als so bedrohlich, weil sie ihnen nicht als Akteur, sondern als Beobachter, nicht als Gestalter, sondern als Getriebener gegenüberstehen. Das zu ändern, haben sie freilich selbst in der Hand. Was sie bei der sich vollziehenden Ablösung einer Ordnung durch eine andere jedoch nicht in der Hand haben, ist der mit dem Verschwinden des Hüters verbundene Verlust der Sicherheitsschirme, die von dem früheren Hüter schützend bereitgehalten worden sind.

Auch wenn die neue globale Ordnung noch nicht klar erkennbar ist, lässt sich von ihr doch sagen, dass sie ein deutlich höheres Rüstungsniveau und vermutlich auch eine Reihe weiterer Nuklearmächte aufweisen wird. Das ist der Preis dafür, dass es eine Weltordnung ohne Hüter sein wird, in die wir uns tastend und taumelnd hineinbewegen.

Herfried Münkler

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