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Bis 2015 das höchste Gebäude der Schweiz und Versammlungsort des fiktiven Geheimbunds: der Prime Tower in Zürich.

© imago images/Travel-Stock-Image

Krimi von Nicolas Verdan: Business-Coachin auf Rachefeldzug

Sie will rücksichtslose Unternehmer zur Strecke bringen und entpuppt sich selbst als Ultraliberale. Der raffinierte Psychothriller „Die Coachin“ des Schweizer Autors Nicolas Verdan.

Höher hinaus geht es kaum. 126 Meter, 36 Stockwerke. So sticht der Prime Tower in die Skyline von Zürich. In dem bläulich verspiegelten Wolkenkratzer versammelt sich regelmäßig die Prime Tower Affiliation, eine diskrete Organisation, in die nur aufgenommen wird, wer wirklich dorthin gehört, ganz nach oben. 

Eine Elite, bei der es weniger auf einen Spitzenverdienst ankommt als auf die richtige Einstellung. „Sich das Unmögliche vorstellen, danach streben und dabei gegenüber dem öffentlichen Interesse völlig gleichgültig sein“, fasst ein Mitglied die Philosophie des Netzwerks zusammen.

Der Prime Tower existiert tatsächlich, er war bis 2015 das höchste Gebäude der Schweiz und wurde danach vom 178 Meter hohen Roche-Turm in Basel überholt. Die Affiliation ist eine Erfindung des Schweizer Schriftstellers Nicolas Verdan. Aufgenommen in den Geheimbund werden nur Personen, die von einem Paten vorgeschlagen wurden und eine Prüfungskommission mit maximaler Rücksichtslosigkeit überzeugen. 

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Von Humanismus halten die Mitglieder nichts, sie verfolgen die libertäre Agenda des Eigennutzes. Verdans Psychothriller „Die Coachin“ ist eng an der Wirklichkeit eines Wirtschaftssystems entlanggeschrieben, das auf seine Opfer wenig Rücksicht nimmt. Manche Passagen erinnern an gut recherchierte Reportagen.

Die Heldin will Rache nehmen. Ihr Bruder hat sich umgebracht, und Caroline Salamin ist davon überzeugt, dass er es tat, weil die Schweizer Post seinen Briefträgerjob in einem Landkreis des Wallis wegrationalisiert hatte. Büßen dafür soll Esposito, der Personalchef des Unternehmens. „Esposito wird für alle Postler bezahlen“, sagt sie. „Er wird sich umbringen.“ 

Salamin ist Business-Coachin und hat es geschafft, den Manager als Klienten zu gewinnen. Ihre manipulative Macht hält sie für unschlagbar. Sie arbeitet mit einem tiefenpsychologischen Ansatz, zerlegt in den Coaching-Sitzungen die Persönlichkeit ihrer Kunden zuerst in ihre Einzelteile, um sie dann neu wieder zusammenzubauen: selbstbewusst, angstfrei, hart. Esposito will sie so mit Tatendrang vollpumpen, „dass er am Ende ganz von selbst explodiert“.

In der Tradition von Patrica Highsmith

Verdans Roman noir steht in der Tradition von Patricia Highsmith, der großen amerikanischen Seelenerkunderin, die ihre letzten Jahre in der Schweiz verbrachte. Ähnlich wie Highsmith kriecht Verdan tief hinein ins Innere seiner Protagonistin. Es ist nicht sympathisch, was er dort findet. Dem, was die Ich-Erzählerin von sich gibt, muss man unbedingt misstrauen. 

Das Wesentliche gibt sie erst am Ende preis. Ihre Klagen über den Zustand der Welt und insbesondere der Schweiz – die Zerstörung der Landschaft durch „pharaonische Projekte“, die Vereinzelung der Menschen und ihr Rückzug in die Smartphones – wirken wie Wutreden gegen den Neoliberalismus. Aber die Coachin hat nichts gegen Kapitalismus und Bereicherung, im Gegenteil. 

„Leadership“ gehört zu ihren Lieblingsvokalen, einmal sagt sie: „Ich glaube nicht an kollektives Handeln.“ Ein Satz wie aus dem Lehrbuch des Ultraliberalismus. Mit dem Glamour von Highsmiths amoralischen Helden Ripley kann es Salamin nicht aufnehmen. Mit seiner Verschlagenheit schon.

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Die Coachin ist unentwegt unterwegs in der Schweiz. Ihre Klienten trifft sie in Zürich, Genf, Bern. Ihren Mini Cooper, schnell und wendig, liebt sie über alles. Sie rast über die Autobahn und hat dabei den Eindruck, „durch Gegenden zu fahren, die ein getarnter Feind verwüstet hat“. 

In den Weinbergen des Lavaux, zum Weltkulturerbe erklärt, sieht sie „klaffende Wunden“, zugefügt durch Winzer, die ihr Erbe verkauft haben. Schlimmer ist es im Zug, den sie manchmal nimmt, um sich entspannen zu können. Dann nickt sie kurz ein, und in den Minuten zwischen Schlaf und Träumen wird sie von Erinnerungen heimgesucht.

„Auf der nachtschwarzen, mit Tröpfchen übersäten Scheibe bewegt sich der einzige Scheibenwischer der Lokomotive hin und her, er wischt einen dicken, sich rot verfärbenden Regen.“ David, ihr Bruder, starb, weil er sich vor einen Zug warf.

„Die Coachin“, ein klug konstruierter Krimi, ist ähnlich raffiniert wie seine Heldin. Die finale Wendung trifft den Leser mit der Härte eines Faustschlags.
[Nicolas Verdan: Die Coachin. Roman. Aus dem Französischen von Hilde Fieguth. Lenos Verlag, Basel 2020. 188 Seiten, 21 €]

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