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Mateus (Dawid Ogrodnik) aus „In meinem Kopf ein Universum“ ist gelähmt – aber sein Verstand funktioniert.

© MFA Film

Krankheit im Film: Entdeckung der Endlichkeit

Helden mit Handicaps: Krankheit im Kino und die neuesten Filme über Menschen mit schweren Leiden.

Alzheimer und ALS, Parkinson und zerebrale Bewegungsstörungen, chronische Schmerzen, Panikattacken, das ganze Programm. Wer dieser Tage ins Kino geht, kann sich vor lauter Krankheit kaum retten. Überall kämpfen Menschen mit schier unerträglichen Schmerzen und Defiziten, von „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ Anfang des Jahres bis zu „Hedi Schneider steckt fest“ Anfang Mai. Den Feind im eigenen Körper besiegen – die in Actionfilmen übliche Weltrettung ist ein Sonntagsspaziergang dagegen. Wobei sich zu den Aids- und Krebs-Filmen („Halt auf freier Strecke“, „Dallas Buyers Club“, „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“) auch neue Krankheitsbilder gesellen, mit Kinohelden, die vorzugsweise im Rollstuhl sitzen, wirr reden, zittern, zucken, sabbern – oder sich gar nicht rühren.

Der Geist ist wach, bloß die Kontrolle über den Körper ist hin. „In meinem Kopf ein Universum“ lautet der Titel des polnischen Films, der seit Donnerstag im Kino läuft. Alle glauben, der kleine Mateus sei bloß „Gemüse“; er kann seine Bewegungen nicht koordinieren, nicht reden, laufen, selbstständig essen. Erst als er erwachsen ist, stellt sich per Zufall heraus, wie klar sein Verstand ist. Seine überforderten, aber liebenden Arbeitereltern haben es immer geahnt. Ein Film über die Tragödie mangelnder Aufmerksamkeit und das Wunder der Willenskraft, basierend auf einer wahren Geschichte.

Oder, ab kommender Woche im Kino, „Das Glück an meiner Seite“ mit Hilary Swank. Die attraktive Pianistin Kate führt ein Bilderbuchleben, toller Karriere- Gatte, schicke Villa, bis ihr ein Glas aus der Hand fällt. So fängt es meistens an, hier entfällt ein Wort, da geht etwas zu Bruch, kleine Malheurs als Vorboten eines großen Schicksalsschlags. Diagnose ALS: Kate leidet an der heimtückischen Nervenkrankheit, wie der Astrophysiker Stephen Hawking in „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ kämpft sie tapfer gegen ihren körperlichen Verfall.

Schon den neuesten ALS-Film gesehen? Kein schönes Thema, möchte man meinen. Aber spätestens seit dem Mega-Erfolg von „Ziemlich beste Freunde“ hat sich herumgesprochen, dass selbst ein schwerstkranker, ab der Halswirbelsäule gelähmter Held kein Hindernis für einen Blockbuster-Film sein muss. Disease sells: Zum einen, weil der Boom der Best-Ager-Filme fortgesetzt werden will, denn die Generation 50 plus sorgt im westlichen Teil der Welt weiter für steigende Zuschauerzahlen. Titel wie „My Old Lady“ und „Zu Ende ist alles erst am Schluss“ haben Konjunktur; und auf „Best Exotic Marigold Hotel“ folgt Teil 2 des Feelgood-Movies mit Judi Dench und Maggie Smith.

Zum anderen garantieren Helden mit Handicap oscar-taugliches Schauspielerkino. Die Darsteller-Trophäen gewannen dieses Jahr Julianne Moore als Alzheimer-Kranke in „Still Alice“ und Eddie Redmayne als ALS-Patient Stephen Hawking, so wie seinerzeit Dustin Hoffman als „Rain Main“ oder Daniel Day-Lewis in „Mein linker Fuß“. Als Gesunder einen Kranken spielen: Die Stars laufen zu Höchstleistungen auf und erinnern zugleich daran, was den Menschen zum Menschen macht. Es ist die Seele, die im noch so gebrechlichen Körper unversehrt bleibt.

Drittens haben sich selbst unheilbare Krankheiten inzwischen als komödientauglich erwiesen. Die Zuschauer werden älter, also sind auch die Nebenwirkungen des Alters nicht länger tabu. Und es kann, ätsch!, auch die Jungen erwischen. Den schwarzen Humor der TV-Serie „Breaking Bad“ um den lungenkrebskranken, in der Not Crystal Meth kochenden Chemielehrer Walter White liebten Millionen. Selbst die auf Nummer sicher gehende deutsche Filmbranche traut sich neuerdings nicht nur Alterskomödien zu („Bis zum Horizont, dann links!“ „Miss Sixty“, „Wir sind die Neuen“), sie entdeckt auch die heiteren Seiten der Demenz.

Opa und Enkelin verstehen sich trotz seiner Gedächtnislücken

Mama hat Alzheimer und pilgert zu Fuß nach Altötting; das Roadmovie „Nebenwege“ floppte 2014. Opa hat Alzheimer; das funktioniert schon wegen der süßen Enkelin besser. Til Schweigers Weihnachtsfamilienfilm „Honig im Kopf“ mit Didi Hallervorden sahen über 6,5 Millionen Zuschauer, Familie schlägt sich, Familie verträgt sich, das Muster bewährt sich auch hier.

Opa und Enkeltochter verstehen sich über alle Gedächtnislücken – und über die mittlere Generation hinweg; in „Still Alice“ findet die an frühem Alzheimer erkrankte Linguistik-Professorin eine Verbündete in ihrer schauspielernden jüngsten Tochter, dem schwarzen Schaf der Akademikerfamilie. „Still Alice“ singt ein hohes Lied auf die Menschlichkeit. Und auf die Lust am Leben. Mit seinen kranken Helden vergewissert sich das flüchtige Medium Kino der eigenen Identität als Augenblickskunst. Carpe diem.

Kino kann Empathie für die Kranken wecken

Mateus (Dawid Ogrodnik) aus „In meinem Kopf ein Universum“ ist gelähmt – aber sein Verstand funktioniert.
Mateus (Dawid Ogrodnik) aus „In meinem Kopf ein Universum“ ist gelähmt – aber sein Verstand funktioniert.

© MFA Film

Krankheitsfilme sind Liebesfilme, sie kippen leicht in den Kitsch. Denn was soll man zeigen, wenn es quälend wird, grausam, eklig? Wenn der rasende Schmerz die Devise „Genieße den Augenblick“ zum Hohn werden lässt? Da gerät das Kino, zumal der Mainstream, an seine Grenzen. Ich bin nicht mehr Ich, weil mit meinem Wissen auch meine Identität verschwindet: Das hat skurrile wie herzzerreißende Folgen. Es kann aber auch zur Debilität und zum Erstickungstod führen. Im Kino lässt sich das kaum darstellen, denn es gilt ja gleichzeitig, Respekt und Würde zu wahren. Nun bemisst sich die Qualität eines Films nicht daran, wie drastisch er etwas ins Bild setzt. Allein in den Gesichtszügen von Julianne Moore spielt sich das ganze Drama einer Kommunikationsexpertin ab, die die Fähigkeit zum Kommunizieren verliert. Die Wahrnehmung verschwimmt, die Sprache verschwindet, der Kopf wird leer: „Still Alice“ ist der erste Alzheimer-Film, der für Momente nachvollziehbar macht, wie sich das anfühlen mag.

„Still Alice“-Regisseur Richard Glatzer war beim Dreh selber schwer krank, er hatte ALS und konnte nur mit Hilfe eines speziell programmierten iPads Regie führen. Er starb kurz nach dem Oscar für seine Hauptdarstellerin. Hilary Swank lässt es als ALS-Kranke in „Das Glück an meiner Seite“ gar nicht erst so weit kommen. Sie mag lallen, sieht aber noch im Verfall adrett aus, und als Kate ein Beatmungsgerät braucht, ist sowieso Schluss. An Maschinen will sie nicht hängen – ihre Entscheidung.

Susan Sontag war gegen metaphorisches Denken bei Krankheiten

Der deutlich von „Ziemlich beste Freunde“ inspirierte Plot – die hyperkontrollierte Kate engagiert die verrückte Hippie-Frau Bec (Emmy Rossum) als Pflegerin, sie werden ziemlich beste Freundinnen – blendet die letzte, härteste Phase der Krankheit aus. Es hat etwas Zynisches, wenn die auf Wunsch gewährte Sterbehilfe oder ein beizeiten eintretender natürlicher Herztod wie bei „Honig im Kopf“ dem Zuschauer allzu unansehnliche Szenen erspart. Sterbehilfe als Mittel zum Kassenerfolg? Da offenbart sich die Hilflosigkeit des Kinos gegenüber dem hässlichen Tod. „Still Alice“ macht das immerhin zum Thema, wenn die noch zurechnungsfähige Alice ein Video mit Anweisungen zum Schlaftabletten-Freitod aufnimmt – und die Schwerkranke die Tipps ihres früheren Ich eben wegen der fortgeschrittenen Demenz nicht umsetzen kann.

Aber auch „Still Alice“ beschönigt, es geht nicht anders bei einem Publikumsfilm. Auch hält der dargestellte, der schöne Tod seit altersher einen ungemeinen Trost bereit: Er macht dem Publikum bewusst, dass es selber noch einmal davongekommen ist. Wir leben ja noch, schon die Fans der Kameliendame und von „Madame Butterfly“ weinten darüber vor Glück.

Zeige deine Wunde. Was besagt es eigentlich über eine Gesellschaft, wenn sich die Publikumsfilme häufen, in denen das Leben aussichtslos ist? Krankheit als Metapher für eine heillose Welt? Susan Sontag befasste sich in ihrem berühmten „Krankheit als Metapher“-Buch von 1978 mit Krebs, später auch mit Aids, sie warnte vor metaphorischem Denken und falscher Psychologisierung. Nein, die Kranken sind nicht schuld, auch die Gesellschaft nicht, sie verrät im Kino nur etwas über ihre Ängste. Wir werden immer älter, die Folgen des demografischen Wandels sind unabsehbar. Und die Angst vor langem Leiden wächst auch.

An Sontags Rat, die ehrlichste Weise, sich mit Krankheit auseinanderzusetzen, bestehe darin, dem metaphorischen Denken „größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen“, lassen sich die aktuellen Krankheitsfilme gut messen.

Hat Krankheit per se läuternde Wirkung, sprengt sie nicht oft die Familienbande?

Nehmen sie ihr Thema nur zum Vorwand, um das Publikum Mores zu lehren? Die Kranken, so das Schema, stellen die Defizite der vermeintlich Gesunden bloß, gemeinsam besinnen sie sich auf die sogenannten wahren Werte, auf Freundschaft, Emotionalität, Sozialkompetenz. Aber läutert Krankheit per se, sprengt sie nicht oft die Familienbande, entfremdet die Liebenden?

Im besten Fall kann das Kino sich auf seine Stärke besinnen. Kann Empathie über Identifikation wecken und es dem Zuschauer ermöglichen, sich in das Unmögliche hineinzuversetzen – wie es bei „Schmetterling und Taucherglocke“ (2007) auf meisterliche Weise mit dem Locked-in-Syndrom gelang.

Mateus, der zuckende Junge von „In meinem Kopf ein Universum“, beißt sich die Lippen blutig, wenn er im Liegen gefüttert wird. Keiner kommt auf die Idee, ihn hinzusetzen, stattdessen werden ihm die Schneidezähne gezogen. Nach der Entdeckung seiner geistigen Zurechnungsfähigkeit bekommt er Zahnersatz. Im Abspann sieht man den „echten“ Mateus. Er heißt Przemek und lebt bis heute unter geistig Behinderten. Als er mit seinem Darsteller Dawid Ogrodnik lacht, sieht man seine großen Zahnlücken. So gaukelt das Kino der Krankheit eine kathartische Wirkung vor oder gar ein Happy End – und kommt ihr nie ganz bei. Schön, wenn ein Film den Unterschied nicht unterschlägt.

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