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Kraftwerk im Oktober 2013 bei einem Auftritt in Eindhoven.

© picture alliance / dpa

Kraftwerk - das deutsche Pop-Wunder: Wir sind die Musikarbeiter

Zur achttägigen Konzertreihe in der Neuen Nationalgalerie: Wie Kraftwerk den Pop aus Deutschland erfunden haben.

Tausende schreien, jubeln, rufen. Der King of Pop war lange fort gewesen, zuletzt hatten ihm Gerichtsprozesse zugesetzt, nun tritt er in London für eine Ankündigung vor einen glitzerroten Vorhang und seine ersten Worte sind: „I love you so much. Thank you all.“ Michael Jackson hat in diesem Moment, der sein letzter öffentlicher Auftritt sein wird, Mühe, überhaupt etwas herauszubringen. Die Arena, in der er 2009 seine Abschiedsvorstellung geben will, ist für Fans geöffnet worden. Der King of Pop will sich nach einer letzten Konzertreihe endgültig zurückziehen. Wie es seinen Anhängern erklären? „I love you“, sagt Jackson. „I really do. You have to know that. I love you so much. From the bottom of my heart.“

Das ist, worum es geht in der Popmusik. Um Identifikation. Teil im Leben eines anderen zu sein, ist das sich stets erneuernde Versprechen an eine Jugend, die sich „verschwenden“ will, wie es oft heißt. Deshalb ist Popmusik ein Liebesakt. Auch in der Musik von Kraftwerk kommt das Wort Liebe vor. Aber Menschen sind mit diesem Wort nicht gemeint. Die Sache ist komplizierter.

„Ich bin allein, mal wieder ganz allein. Starr’ auf den Fernsehschirm. Hab’ heut Nacht nichts zu tun. Ich brauch ein Rendezvous.“

So traurig wie diese Zeilen aus dem Hit „Computerliebe“ von 1981 kann es klingen, ein moderner Mensch zu sein. Dieser hier ist gegenüber Gefühlen immun. Er weiß das auch und leidet nicht daran. Als Kraftwerk-Wesen hat er sich in sein „Labor“ zurückgezogen, wo er umgeben von seinen Computern der bösen Bestie Entfremdung nur umso erbarmungsloser ausgeliefert ist. „Wir versuchen nicht, ein bisschen Baby-I-love-you-Atmosphäre zu verbreiten“, sagte Mastermind Ralf Hütter einmal, „sondern es realistischer zu sehen.“ Als Michael Jackson mit Kraftwerk zusammenarbeiten wollte, bekam er als Antwort: Nein. Kraftwerk haben fast immer Nein gesagt. Auch zu David Bowie, der die Band sehr verehrte.

Kraftwerk waren Pioniere des Pop

Mit Liebesentzug ist also der Aufstieg einer Musik verknüpft, wie sie nur in Deutschland und hier womöglich nur in Düsseldorf entstehen konnte. Einer reichen Stadt, von der nach dem Zweiten Weltkrieg wenig übrig geblieben war. Die sich mit nüchternen Neubauten von den Trümmern trennte. Wo es Geld gab, das Experimente ermöglichte und zwei genialischen Söhnen erlaubte, sich ihre eigene Stunde null zu definieren, um ein futuristisches Automaten-Universum zu errichten.

Kraftwerk haben, wie sie sagen, von "vorne angefangen". Dass sie einmal Pioniere des Pop sein würden, hatten sie dabei gar nicht im Sinn, als sie nach einer experimentellen Krautrock-Phase Querflöte und Hammondorgel beiseite legten und sich frühe Synthesizer für ihre Zwecke umbauten. Sie konnten nicht wissen, dass ihre minimalistische Reduktion auf Konsole und Kälte den Wünschen nach Übersichtlichkeit entgegenkam. Dabei wollte das Quartett um Hütter und Schneider der anglo-amerikanischen Pop-Dominanz etwas entgegensetzen, „das so erschreckend deutsch sein würde, dass man uns dafür geliebt hat“, wie Bandmitglied Wolfgang Flür meint.

Ein seltsamer Satz, total verbogen. Deshalb gibt er das Problem der Deutschen mit sich selbst vielleicht am besten wieder: Etwas Deutsches kann man nicht lieben. Sicher, es gibt hierzulande bewunderte Popmusiker und Popstars. Es ist aber so, wie Herbert Grönemeyer jüngst sagte: „Kleine Ausreißer sind erlaubt, aber dann schnell wieder zurück ins Glied.“ Selbst bei Nena, bei der alles gepasst hat, der coole Look, das warmherzige Wesen, die einfache Botschaft, war das so. Dem haben Bands wie Rammstein, Einstürzende Neubauten, Atari Teenage Riot vorgebeugt, indem sie sich in den finsteren Kammern deutscher Legenden und Ängste einnisteten. Kraftwerk zogen von allen die radikalste Konsequenz: Sie hörten auf, als Personen zu existieren.

Kraftwerk inszenieren sich als Gesamtkunstwerk

„Wir sind Musikarbeiter“, lautet ein frühes Diktum von Ralf Hütter und Florian Schneider, „Mr. Kling“ und „Mr. Klang“, den zwei verklemmt-genialischen Kindern des Wirtschaftswunders. Sie träumten von einem „Lautsprecher-Orchester“, das sie befehligen wollten. Was den neurotischsten amerikanischen Rockkritiker Lester Bangs sofort für sie einnahm. Hatten die Deutschen im Krieg nicht Speed erfunden? Jene Durchhaltedroge Pervitin, „die menschliche Wesen der Maschinenhaftigkeit am nächsten brachte“, wie er befand, und die unter amerikanischen Hochspannungskünstlern wie Dylan, Ginsberg, Kerouac und Lenny Bruce verbreitet war. Warum nicht Chuck Berrys Gitarrenriffs, die ohnehin jeder Trottel kopieren konnte, auf Lochstreifen prägen und von Apparaten spielen lassen? Oder noch besser, die Verschmelzung von Mensch und Maschine so weit treiben wie Kraftwerk: „Das ist nicht länger Du und Ich, das ist Es“, philosophierte Hütter im Gespräch mit Bangs über die Erfahrung, von der Elektronik absorbiert zu werden.

Das entsprach exakt dem, was Marshall McLuhan als Eigenschaft elektronischer Medien apostrophiert hatte. Dass sie nämlich Erweiterungen des zentralen Nervensystems sind und den Menschen ebenso steuern wie er sie. Im Wissen um diese zerebrale Qualität gab Kraftwerk optischen Bildern von Anbeginn so viel Gewicht wie ihren musikalischen Szenerien. Sie wollten das Gesamtkunstwerk. Das ließ sie mit ihrer öffentlichen Erscheinung ebenso manipulativ umgehen wie mit Sounds. Die Band ließ nur Fotos verbreiten, auf denen ihre Mitglieder mit Seitenscheitel, Businessanzug und ausdruckslosem Blick zu sehen waren. Später gab es nicht einmal solche. Sie spielen Medien wie einen Synthesizer.

Auftritt im Tempel der Moderne schlechthin: Kraftwerk in der Neuen Nationalgalerie.

Kraftwerk im Oktober 2013 bei einem Auftritt in Eindhoven.
Nicht länger Du und Ich, sondern Es: Kraftwerk im Oktober 2013 bei einem Auftritt in Eindhoven.

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Deshalb ist es trotz des Musealisierungseffekts ein Höhepunkt der Kraftwerk-Geschichte, wenn die Band 40 Jahre nach „Autobahn“, dem Eichpunkt ihrer Karriere, in Mies van der Rohes schmucklosem Glaskasten der Neuer Nationalgalerie auftritt, dem Tempel der Moderne schlechthin. Auch wenn Ralf Hütter aus der legendären Besetzung als Einziger übrig geblieben und seit „Tour de France Soundtracks“ 2003 kein Album mehr erschienen ist, hat sich Kraftwerk als Multimedia-Ereignis von Warholscher Vieldeutigkeit erhalten. Am Anfang waren sie vielleicht nur die komischen Tüftler, die der wachsenden Technikfeindlichkeit mit radikaler Technikbesessenheit in die Kniekehle traten. Aber sie schweigen über die Jahre so beharrlich und hielten subjektive Aussagen stets aus den Songs heraus. Sie haben sich Zeilen ihre Gültigkeit bewahrt wie „Am Heimcomputer sitz ich hier / und programmier die Zukunft mir.“

Synthesizer hatten vor Kraftwerk wie billige Hilfsorchester geklungen. Indem die Düsseldorfer sich aus Resten einer Beatbox eine eigene Rhythmusmaschine zusammenlöteten, befreiten sie die Elektronik von ihrer Als-ob-Funktion. Ein glatter, kühler, beliebig modulierbarer Kunstklang war entstanden. Der britische Musikjournalist David Stubbs („Future Days“) erkennt in diesem Klang heute den Soundtrack des „Modern Germany“ der Helmut-Schmidt-Periode. Nüchtern, geschichtsvergessen, zukunftsoptimistisch bis zur Überheblichkeit.

Die Tür zur deutschen Pop-Identität

Kraftwerks größte Leistung ist allerdings, überhaupt eine Tür zu so etwas wie einer deutschen Pop-Identität aufgestoßen zu haben. „Wir wollen, dass die ganze Welt weiß, woher wir kommen“, rieb Hütter 1975 dem verdutzten Bangs unter die Nase.

Dieses Selbstbewusstsein ließ man damals nicht vielen durchgehen. Meistens verstörte so etwas ein links-alternatives Hippie-Publikum. Aber Hütter meinte: „Wir sind die erste Generation, die (...) weiß, wann sie amerikanische Musik spürt und wann sich selbst. (...) Die deutsche Mentalität, die weiterentwickelt ist, wird unser Verhalten immer prägen.“

Was Hütter mit „weiterentwickelt“ meinte, führte er gegenüber Bangs nicht aus. An anderer Stelle sagte er über seine manische Arbeitswut allerdings, dass der bis zur Selbstaufgabe gehende Einsatz eben der „Herangehensweise der Deutschen“ entspreche. Sie opfern der Sache demnach alles – vor allem sich.

Welche frustrierenden Folgen das für diejenigen hatte, die in dieser Menschmaschine agierten, haben später die zu Elektronikern umgeschulten Schlagzeuger Karl Bartos und Wolfgang Flür („Ich war ein Roboter“) geschildert. Wie bei Warhols Factory wirkte das künstlerische Konzept nach innen als Diktatur.

„Wir sahen uns als Ingenieure und Musiker mit einer selbstbewussten deutschen Identität“, berichtet Wolfgang Flür in dem gerade erst veröffentlichten Buch „Electri_City“. „Wir wussten, wir waren die Söhne von Wernher von Braun und Werner von Siemens.“ Die Haltung machte Kraftwerk im anglo-amerikanischen Raum auf Anhieb berühmter als in der Heimat. Kraftwerk habe den Schwarzen etwas von der Musik wieder zurückgegeben, die die Weißen ihnen geklaut hatten, behauptet etwa ein Techno-DJ mit Blick auf die verschrobene Funkyness der Düsseldorfer Beatschmiede. Und das ist eine Liebeserklärung.

In Deutschland blieben derlei Herzlichkeiten aus. Kraftwerk legten es ja auch überhaupt nicht auf Zuneigung an. Sie waren das, was entsteht, wenn Pop in die Abgrenzung getrieben wird.

Das Nonkonforme wird kleingehalten

In Großbritannien hatte Pop ab 1964 die Lücke gefüllt, die durch den Niedergang des Empire und seiner Klassenhierarchien entstanden war. Die Beatles und Stones kleideten sich nicht nur bald wie Aristokraten. „Swinging London“ brachte eine Industrie aus Werbern, Designern und neureichen Pop-Unternehmern hervor, die den emotionalen Wert der Musik als gesellschaftlichen Kitt benutzten.

Obwohl sich nach dem Nazi-Schrecken auch hierzulande eine Leerstelle aufgetan hatte, war Pop nicht die richtige Antwort darauf. Die Stimmen derjenigen, die den Kulturbruch des Holocausts nicht verwinden konnten und denen kein Aufbruchssignal genügte, waren bis in die achtziger Jahre hinein zu stark, um den Schuldkomplexen mit einem emphatischen kollektiven Ja zu begegnen. „Der Kampf um die Seele des Landes wurde als Generationenkonflikt ausgetragen“, wie der britische Kraftwerk-Biograf David Buckley schreibt. Hinzu kam, dass Popmusik mit den Siegern einrückte. Wim Wenders sprach diesbezüglich einmal von der "Kolonisierung des Unbewussten".

Zuerst befreiten die Alliierten das Land, dann seine Jugend. Das hatten die Deutschen davon, dass sie ihre Unterhaltungselite nach 1933 umgebracht oder fortgejagt hatten. Sie waren zur Kopie dessen verdammt, was mit seinen Wurzeln tief im neurotischen amerikanischen Emanzipationsmythos verankert war. Auf der Suche nach einer eigenen populären Form war Popmusik nirgendwo im Westen „so banal, angepasst, peinlich und voller Plattitüden wie in Deutschland“, meint David Buckley. Der Schlager als genuin deutsches Unterhaltungsphänomen sei „Sentimentalität in seiner erstickendsten Form“. Das Nonkonforme wird kleingehalten.

Ruhm, Glanz und Oberflächlichkeit

Auf den fünf Alben „Autobahn“ bis „Computerwelt“ setzte sich die Band beinahe manisch mit dem Phänomen des Ruhms, dem Glanz der Oberflächlichkeit und der Frage auseinander, wie das überhaupt klappen kann zwischen Sender und Empfänger einer Botschaft. Auf „Radioaktivität“, ihrem ersten wirklich schlüssigen Pop-Album von 1975, gehen sie dafür die technischen Komponenten durch und landen beim Generator als „Stimme der Energie“. Liebe wird zu einem Diodenrauschen erklärt.

Auf „Trans Europa Express“ heißt es dann: „Sogar die größten Stars / Entdecken sich selbst im Spiegelglas“. Damit ist das Narziss-Motiv eingeführt, das Kraftwerk immer wieder verarbeiten wird, etwa in dem Megahit „Das Model“, in dem die schöne Frau nicht dadurch attraktiv wird, dass sie schön, sondern weil sie berühmt ist: „Ich muss sie wieder sehn, ich weiß, sie hat’s geschafft.“

Man hört aus solchen Sätzen die eremitische Distanz heraus, die Hütter, Schneider, Bartos und Flür auferlegt war. Vor allem Hütter hat sich mit dem Kraftwerk-Kosmos eine Welt erschaffen, in die er sich vor allen Problemen mit seinen Mitmenschen zurückziehen kann. Der Rest ist Schweigen.

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