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Überwältigung der Sinne. Rammstein-Konzerte sind Spektakel für Pyromanen und Fans von industrieller Maschinenmusik. Hier live in Paris 2012.

© Rammstein GbR

Konzertfilm „Rammstein: Paris“: Frischzellenkur im Flammenmeer

Irrwitzige Perspektiven und rasante Schnittorgien: Der neue Konzertfilm über die Rockband Rammstein ist einer der besten seit Jahrzehnten. Er könnte den stagnierenden Musikmarkt wiederbeleben.

Der Bühnensteg senkt sich wie ein gigantisches Raumschiff über den Köpfen des Publikums. Die Bilder zucken wie statisch aufgeladen in düsterem Schwarz-Weiß, als wären sie von einer außerirdischen Überwachungskamera aufgezeichnet. Es ist die Ankündigung einer Invasion. In ästhetischer Hinsicht liefert der Konzertfilm „Rammstein: Paris“ sicher keine neuen Erkenntnisse über die Bedeutung der neben den Scorpions international bekanntesten deutschen Band.

Aber die Fans der Vorreiter der sogenannten Neuen Deutschen Härte wird dieser Mitschnitt zweier Auftritte im Pariser Palais Omnisports im März 2012 unter der Regie von Jonas Åkerlund verzücken. Die Meinungen über Rammstein waren schon immer gespalten. Doch unabhängig davon, was man von der Band hält, ist Åkerlund ein perfekter Konzertfilm gelungen – vielleicht der beste seit „Stop Making Sense“ mit den Talking Heads.

„Stop Making Sense“ bedeutete 1984 für das Genre des Konzertfilms ein Erweckungserlebnis. Bahnbrechend, weil er den Moment und die Energie einer Konzertsituation so brillant erfasste, als wäre man selbst dabei. Regisseur Jonathan Demme („Das Schweigen der Lämmer“) war noch ein relativ unbekannter Autorenfilmer, die musikalische Karriere der New Yorker Artpunks Talking Heads nahm gerade Fahrt auf.

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Eine perfekte Konstellation also für das Wagnis eines Konzertfilms. Ein Genre, das damals als Kassengift galt. „Stop Making Sense“ läutete – fast zwanzig Jahre nach der Bob-Dylan-Tourdoku „Don’t Look Back“ und im Fahrwasser von MTV – eine Renaissance ein. Laurie Anderson drehte 1986 den zeitlosen Performance-Film „Home Of The Brave“, Tom Waits schredderte sich 1988 mit „Big Time“ in die Gehörgänge seiner Fans. Es waren Jahre eines auch kommerziell erfolgreichen Pop-Kinos, das geschickt mit Versatzstücken multimedialer und avantgardistischer Kunst arbeitete. Das Erfolgsrezept markierte den Beginn weiterer Kooperationen zwischen Musikern und jungen Filmemachern, etwa Depeche Mode und Anton Corbijn.

Wechselspiel aus Nähe und Distanz

Jonas Åkerlund hatte schon als Regisseur der notorischen Rammstein-Videos „Pussy“ und „Ich tu dir weh“ einen entscheidenden Beitrag zu den Kontroversen um das Album „Liebe ist für alle da“ von 2009 geleistet. Er ist der Fürst der Finsternis, Spezialist für brachiale Bilderwelten und epileptische Schnittorgien.

Für jeden Song findet Åkerlund eine eigene visuelle Idee. Bei „Sonne“ nimmt er den pyrotechnischen Einsatz zum Anlass, die Bühne durch eine rasante Schnittfolge in ein Flammenmeer zu verwandeln. Mit teils irrwitzigen Perspektiven, Bildverzerrungen, Verfremdungseffekten und Morphing-Tricks geht er bis an die Grenzen des technisch Möglichen. Aus dem Wechselspiel zwischen der Nähe zur Band, im Mittelpunkt Sänger Till Lindemann, und der Distanz zur absurden Materialschlacht entstehen immer wieder überraschende Eindrücke. Åkerlund besitzt ein gutes Gespür für den performativen Charakter einer Rammstein-Show. Die Band lässt sogar ihre Selbstironie durchblicken, wenn Lindemann zu „Mein Teil“ den blutüberströmten Schlächter einer Grand-Guignol-Inszenierung mimt.

Man fragt sich nur, warum die 2012 gedrehten Aufnahmen erst jetzt auf DVD und BluRay erscheinen – ein Vierteljahr nach dem Weihnachtsgeschäft. In den Kinos ist die Veröffentlichung auf einen kleinen Event-Start geschrumpft. Vermutlich kam das Rammstein-Label Universal zu dem Schluss, dass der Vertrieb für den Heimmarkt lukrativer sei, als die Rammstein-Fans ins Kino zu bewegen. Die gehören allerdings zu den treuesten. Der Konzertfilm „Rammstein in Amerika“ hält sich seit anderthalb Jahren in den deutschen Verkaufscharts. Das Geschäft mit Live-DVDs/BluRays im Pop-Segment stagniert – was im Anbetracht der anhaltenden Krise der Musikindustrie immerhin ein positives Signal ist.

Im vergangenen Jahr lag der Umsatz von Musik-DVDs bei 55 Millionen Euro, inzwischen macht jedoch das lange totgesagte Vinyl der DVD wieder Konkurrenz. 2016 wurden erstmals mehr Schallplatten als Musik-DVDs verkauft. Das Durchschnittsalter von DVD-Käufern dürfte allerdings stetig zunehmen, zieht man die aktuellen Verkaufscharts heran. Da sind die Rolling Stones mit „Havana Moon“ seit Monaten vorne dabei, flankiert von Veteranen des Popgeschäfts wie den Puhdys, Udo Lindenberg und Joe Cocker.

Ein neuer Rammstein-Film kommt einer Frischzellenkur gleich

Ein neuer Rammstein-Film kommt da einer regelrechten Frischzellenkur gleich. In kommerzieller Hinsicht scheint der deutsche Musik-DVD-Markt ein Eigenleben zu führen. Everybody’s Darling Ed Sheeran stellt mit „Jumpers For Goalposts Live At Wembley Stadium“ in den aktuellen Top Ten die einzige Schnittstelle zu den Tonträgercharts dar. Weiter hinten rangieren noch Mumford & Sons.

Ein Blick nach England zeigt, dass auch im Mutterland des Pop der Musik-DVD-Markt ein Vorruhesitz für Pop-Rentner ist. Auf der Insel mischen sogar die Hollies, Small Faces und Everly Brothers wieder in den Charts mit. Kein Wunder, dass im vergangenen Jahr „The Beatles: Eight Days A Week – The Touring Years“ in beiden Ländern der bestverkaufte Musiktitel war. Ein Film, der hierzulande an den Kinokassen floppte – ebenso wie Metallicas unausgegorener Konzertfilm-Hybrid „Through The Never“. Die einst blühende Liaison zwischen Livekonzert und Kino scheint damit dauerhaft beendet, auch bedingt durch die biedere Machart der meisten Filme. Im Fall von „Rammstein: Paris“ ist das bedauerlich, denn allein schon wegen seines Ideenreichtums wären ihm ein paar Tage auf der großen Kinoleinwand vergönnt.

Die Weltpremiere von „Rammstein: Paris“ findet am 16. März in der Volksbühne statt. Die Vorführung ist ausverkauft.

Andreas Döhler

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