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Schick. Die Apple-Watch wirbt mit dem Versprechen von Freiheit. Dabei ist es nichts anderes als eine elektronische Fußfessel am Handgelenk.

© Kay Nietfeld/dpa

„Komplizen des Erkennungsdienstes“ von Andreas Bernard: Nach mir die Datenflut

Wie Überwachung zum Livestyle wurde: In seinem Essay „Komplizen des Erkennungsdienstes“ ergründet der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard die verhängnisvolle Lust an der Selbstverdatung.

Sich ja nicht dingfest machen lassen, das war einmal die Utopie des Subjekts, in den 1970/80er Jahren und auch noch in den frühen Neunzigern. Dem Staat wollte es durch die Finger schlüpfen, auch die Freunde mussten nicht alles von ihm wissen, die Eltern ließ es ohnehin besser im Unklaren. Es konnte nur von Vorteil sein, wenn sie nicht so genau wussten, was es trieb.

Das Vage bietet Möglichkeiten. Man kann sich verändern, man kann Geheimnisse haben, man kann abtauchen. Bei aller Politisierung dieser Jahre war die Vorliebe fürs Untertauchen womöglich mehr als das romantisierende Sympathisieren mit dem Gesetzesbruch. Es war der Kern einer Mentalität, die sich seither komplett gewandelt hat.

Warum geben Daten in jedem Umfang und in alle Richtungen preis?

Was ist da geschehen? Andreas Bernard erkundet in seinem Buch „Komplizen des Erkennungsdienstes“ nicht unbedingt die Subjektseite des Vorgangs, wie der Untertitel, „Das Selbst in der digitalen Kultur“, vermuten lassen könnte. Er ist Journalist und Kulturwissenschaftler, kein Philosoph. Aber er zeichnet die Entwicklung nach, die aus der „fluiden Identität“, wie sie die erste Generation der Internet-Enthusiasten noch kultivierte, eine Selbstdarstellung werden ließ, die kein Problem damit hat, sich Tag für Tag ein wenig kenntlicher zu machen. Warum kann das, was bei der bundesrepublikanischen Volkszählung 1987 noch Ängste bis hin zur „Paranoia“ auslöste, die Erfassung einiger persönlicher Daten, mit ihrem Potenzial, verknüpft zu werden, für die meisten der heutigen Internetnutzer so völlig ohne Belang sein? Täglich geben wir Daten in einem viel größeren Umfang preis und verteilen sie in alle möglichen Richtungen.

„Die Freiheit ruft“, so bewirbt Apple gerade seine allerneueste Watch. Freiheit, warum Freiheit? Nur weil man das Kontroll-, Kommunikations- und Erfassungsinstrument am Handgelenk spazieren tragen kann? Andreas Bernard zeigt, wie all die Gadgets, die noch heute mit dem „Freiheitsversprechen“ der ersten Netzeuphorie beworben werden, ihre Funktion zunächst im Bereich von Psychiatrie, Militär und Kriminalistik entfalteten. Jedes Smartphone ist ein Ortungsgerät. Wer die Funktion ausschaltet, kann sich das Geld sparen. Fitness-Tracker überwachen Wege und Körperfunktionen des Trägers. Was aus dem Strafvollzug als „elektronische Fußfessel“ bekannt ist, die übrigens ebenso oft am Handgelenk getragen wird und nur mit Einwilligung des Trägers fixiert werden darf, ist vom „Kontrollmedium“ zum „Statussymbol“ geworden.

Das Profil als omnipräsente Subjektivierungsform

Während sich der Supreme Court, der Bundesgerichtshof oder der Europäische Gerichtshof eine Menge Mühe geben, das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“, wie das seit dem Volkszählungs-Urteil des Bundesverfassungsgerichts im deutschen Persönlichkeitsrecht heißt, juristisch zu definieren, ist es den meisten Nutzern egal, was mit dem Datenschweif geschieht, den sie hinter sich herziehen. Die Übersetzung jedes Lebenszeichens in Daten scheint eine Form der Selbstvergewisserung geworden zu sein. Bernard spricht von einer regelrechten „Erfassungssehnsucht“. Die Quantified-Self-Bewegung, in der sich die Gesundheitsvorsorge mit kompetitiven und kommunikativen Aspekten paart, ist allerdings längst nicht so neuartig, wie ihre Rhetorik glauben machen will. In den humanistischen Vermessungswissenschaften des 19. Jahrhunderts sieht Bernard ihre Vorläufer, in der Physiognomik eines Johann Caspar Lavater, im Behaviorismus und sogar in Alphonse Bertillons Anthropometrie, einer Identifikationsmethode für rückfällige Verbrecher.

Das Profil, als eine Darstellungsform, die Abweichung und Delinquenz erfassen soll, ursprünglich in Psychiatrie und Kriminalistik beheimatet, ist zur „omnipräsenten Subjektivierungsform“ geworden. In den sozialen Netzwerken ist es ebenso selbstverständlich wie unabdingbar, wobei Erkennbarkeit und Selbstwerbung Hand in Hand gehen. Kein Bewerbungsratgeber kommt ohne die Behauptung aus, nichts sei so wichtig, wie ein Profil zu haben. Dass das Individuelle immer auch anpassungsfähig sein soll und sich derjenige, der sich gerade noch als etwas Besonderes verstand, im nächsten Moment reibungslos in ein Unternehmen einfügen muss, gehört zu der „widersprüchlichen Rhetorik“, die Ratgeber und Coaches hemmungslos verbreiten.

Die kollektive Fantasie gefunden zu werden

Warum wenden heutzutage Menschen freiwillig Technologien auf sich selbst an, die ursprünglich zur Verhaltenssteuerung und Kontrolle anderer gedacht waren? Woher kommt „die allgemeine Lust an der Selbstverdatung“? Auf diese Frage läuft Andreas Bernards Essay hinaus, ohne eine Antwort geben zu können. Michel Foucaults Konzept der „Gouvernementalität“, das er am Ende in den Ring wirft, ist in diesem Zusammenhang wenig erhellend.

Andreas Bernard, Professor am „Center for Digital Cultures“ der Leuphana Universität Lüneburg, hat Bücher über Reproduktionstechnologien, die Geschichte des Fahrstuhls und einen Schlüsselroman über seine Zeit beim Jugendmagazin der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben. Für das, was er sich mit seinem neuen Buch vorgenommen hat, eine „Einbettung digitaler Medientechnologien in die Geschichte der Humanwissenschaften“, ist „Komplizen des Erkennungsdienstes“ nicht systematisch genug. Dennoch hat er mit der erkennungsdienstlichen Perspektive einen Aspekt exponiert, der anschlussfähig ist.

Mit Recht diagnostiziert Andreas Bernhard den Übergang der übersteigerten Orts-und-Rechtslosigkeit-Rhetorik früher Cyberspace-Enthusiasten ungefähr mit dem Web 2.0 in „feste Identitäten und Positionen“ und erkennt dahinter vor allem kommerzielle Interessen. Trotzdem muss man das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit bzw. nach Zugehörigkeit überhaupt, wie es sich in den sozialen Medien und in der ununterbrochenen Ansprechbarkeit und Sendebereitschaft extensiver Smartphone-Nutzung artikuliert, ernster nehmen, als es hier geschieht. Es scheint so etwas zu geben wie die kollektive Fantasie, gefunden werden zu können, wenn jemand nach einem sucht. Und sie ist wohl stärker als der Wunsch, ab- oder gar unterzutauchen.

Andreas Bernard: Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2017, 240 Seiten, 24 €.

Meike Feßmann

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