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Schuldig des Todschlags an George Floyd. Menschen in Minneapolis reagieren auf den Schuldspruch gegen Derek Chauvin.

© Stephanie Keith/ZUMA Wire/dpa

Kommentar zur Verurteilung von Derek Chauvin: Genugtuung ist nur ein Schritt in Richtung Gerechtigkeit

Die Erleichterung über das Urteil gegen Derek Chauvin ist groß. Nicht nur in der Black Lives Matter-Bewegung. Aber bedeutet es auch einen Wendepunkt?

Michaela Dudley, Jahrgang 1961, ist Berlinerin mit afroamerikanischen Wurzeln. Sie arbeitet als Kabarettistin, Kolumnistin und Keynote- Rednerin. Dudley ist gelernte Juristin. Hier kommentiert das Urteil gegen den Ex-Polizisten Derek Chauvin, der des Totschlags an George Floyd schuldig gesprochen wurde.

Meine feuchten, rot unterlaufenen Augen klebten am Fernsehbildschirm. Das einstimmige Urteil der zwölf Geschworenen wurde vom Richter verlesen. Schuldig in allen drei Anklagepunkten: Mord zweiten Grades, Mord dritten Grades und Totschlag zweiten Grades.

Ich klatschte, schrie, schimpfte

Dies war der Moment, den ich und Abermillionen Menschen lange ersehnt hatten. Eine Mischung aus Euphorie und latenter Erzürnung ergriff mich. Ich klatschte, ich schrie, ich schimpfte, als dem weißen Ex-Polizisten Derek Chauvin die Handschellen angelegt wurden.

Der süffisant gelassene Gesichtsausdruck, mit dem er in die Handykamera geschaut hatte, während er das Leben aus George Floyd qualvoll herausgequetscht hatte, war nicht mehr zu erkennen.

Dann kam die Pay-off-Szene, als er, ganz ohne Cop-Bonus, wie ein gemeiner Kapitalverbrecher aus dem Gerichtssaal in Minneapolis geführt wurde. Seinen Zweiteiler mit Schlips wird er wenig später wohl gegen einen orangefarbenen Jumpsuit mit offenem Kragen getauscht haben.

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Er könnte bis zu 40 Jahre Haft bekommen. In zwei Monaten wird er das Strafmaß erfahren, und erst danach dürfte er Berufung einlegen. Immerhin war schon die Urteilsverkündung eine große Genugtuung.

Doch selbst diese große Genugtuung beinhaltet lediglich einen kleinen Schritt in Richtung Gerechtigkeit. Auch wenn Chauvin, jetzt 45 Jahre alt, im Gefängnis sterben würde, wäre der Chauvinismus damit noch lange nicht tot.

Bei weißen Polizist*innen in den Vereinigten Staaten ist der Glaube an die eigene charakterliche Überlegenheit gegenüber schwarzen Mitbürger*innen leider tief verwurzelt. Zum Vergleich: Bewaffnete White Supremacists, die das Kapitol stürmen, werden auf eine verstörend selbstverständliche Weise mit Samthandschuhen angefasst. Eine gefährliche Heuchelei, die nicht von ungefähr kommt.

Michaela Dudley.
Michaela Dudley.

© Carolin Windel

Die Strukturen der rassistischen Polizeibrutalität in den USA, die längst auch im Norden grassieren, gehen auf die einst in den Südstaaten tätigen Sklavenpatrouillen zurück. Wer als Nicht-Weißer ins Visier einer Streife gerät, wird grundsätzlich wie ein Krimineller behandelt.

Auch bei Verdacht auf Kleinstvergehen. Bei George Floyd war es ein falscher Zwanziger. Für den 20-jährigen schwarzen Autofahrer Daunte Wright ist erst letzte Woche seine in der Pandemie abgelaufene Prüfplakette zum fatalen Verhängnis geworden.

Angeblich die Waffe mit dem Elektroschocker verwechselt

Noch in seinem Pkw sitzend, telefonierte Wright verängstigt mit seiner Mutter, während ihn drei Cops mit gezogener Waffe umkreisten – nur knapp zehn Kilometer von Chauvins Tatort entfernt. Kimberly Ann Potter, eine weiße Polizistin, erschoss Wright. Angeblich habe sie Waffe und Elektroschockgerät verwechselt.

Mit dem traditionell martialischen Auftreten der Polizei gegenüber Schwarzen waren viele Weißamerikaner*innen lange großenteils einverstanden. Als die Bürgerrechtsbewegung mit der Devise „No justice, no peace“ aufwartete, wurde das als erpresserische Bedrohung gegen Weißamerika aufgefasst.

Endlosschleife der Entmenschlichung

Andere Weiße solidarisierten sich, wenn sie überhaupt hinschauten. Doch in Anbetracht der Endlosschleife der Entmenschlichung, die zahlreiche Videoaufnahmen dokumentiert haben, konnten Weißamerika und die Welt nicht mehr wegschauen. Ihnen wurde ein Spiegel vorgehalten, und sie erschraken bei der Erkenntnis, dass Tatenlosigkeit gegenüber Rassismus einer Komplizenschaft gleicht. Im Prozess gegen Chauvin fiel es hoffnungserweckend auf, dass andere Polizist*innen das früher Undenkbare getan haben, indem sie gegen einen Kollegen ausgesagt haben.

Es marschieren immer mehr Menschen jeglicher Couleur mit BLM-Transparenten, und gestern feierten sie bei der Urteilsverkündung mit. Das ich gut so. Doch die Bewegung darf nicht an Momentum verlieren.

In den USA ist der nächste Schritt die Verabschiedung des nach George Floyd benannten Gesetzes gegen Polizeibrutalität. Dort, hierzulande und weltweit ist es höchste Zeit, dass rassistische Vorurteile bis auf die Wurzel bekämpft werden.

Michaela Dudley

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