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Elend in deutschen Ketten. Gefangene des Herero-Aufstands von 1904 in Deutsch-Südwestafriak, dem heutigen Namibia.

© ullstein bild

Kolonialismus und Holocaust: Die zweifache Schuld

Natan Sznaider erklärt, warum Kolonialismus und Judenvernichtung historisch betrachtet verschiedene Dinge sind.

Am 14. August 2020 sollte Achille Mbembe die Eröffnungsrede zur Ruhrtriennale halten. Dagegen erhob sich angesichts der antisemitischen Positionen des kamerunischen Politikwissenschaftlers und Historikers weitreichender Protest, schließlich wurde er wieder ausgeladen. Diese „Mbembe-Affäre“ löste einen intensiven „Feuilletonkrieg“ aus, der den postkolonialen Theoretiker, der etliche bedeutende Auszeichnungen wie den Geschwister-Scholl-Preis erhalten hatte, in Deutschland noch breiter bekannt machte als zuvor.

Natan Sznaider erwähnt dies zu Beginn seiner weit ausgreifenden Darstellung über die Zusammenhänge von Holocaust und Kolonialismus. Ausführlich widmet er sich aber einem anderen Feuilletonkrieg, der Dreyfus-Affäre. Die Dreyfusarden bezogen sich damals auf republikanische Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit. Ihre Gegner verteidigten die Heiligkeit der französischen Nation. Ob Juden dort einen Platz fanden oder nicht, war nicht wichtig.

[Natan Sznaider: Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus. Carl Hanser Verlag, München 2022. 256 Seiten, 24 €.]

Der Dreyfusard Émile Durkheim wiederum, Sohn eines Rabbiners und Soziologe, glaubte an das universale Prinzip der Staatsbürgerschaft, das ein partikulares Jüdischsein aufheben könne. Dieser Gedanke der Assimilation war namentlich in Deutschland populär. Die deutschen Rabbiner verhinderten 1897 die in München geplante Gründung des Zionistischen Weltkongresses, sodass Theodor Herzl nach Basel ausweichen musste.

Die Besetzung Palästinas als Skandal

Der Zionismus, erwachsen aus dem Kampf gegen den Antisemitismus, kann als antikolonialistische Befreiungsbewegung beschrieben werden. Aber durch die Gründung des Staates Israel hat sich die Situation grundlegend verändert. Nun gibt es auch ein gegenläufiges Narrativ. Israel nehme nun, so Mbembe, den Platz der Mörder ein, die Besetzung Palästinas sei „der größte moralische Skandal unserer Zeit“, wobei unklar bleibt, was mit Palästina gemeint ist, ob die vor 1948 besiedelten Gebiete, die Staatsgründung oder die derzeit von Israel besetzten Gebiete.

Sznaider hält sich nicht lange mit Mbembe auf, auch wenn dies der bedeutendste Vertreter des modernen Postkolonialismus ist. Vielmehr gibt es luzide Referate über die Denkbewegungen von Karl Mannheim, Claude Lanzmann, Frantz Fanon, Albert Memmi, Edward Said und anderen Repräsentanten der rivalisierenden Partikularismen, die stets genau bezeichnet sind. So wird etwa Mannheim eingeführt als „Ungar, Jude, Deutscher“, Said als „Christ, Araber, Amerikaner“.

Letzterem ist ein zentrales Kapitel gewidmet. Said, berühmt geworden durch sein Buch „Orientalismus“ (1978), hat den antikolonialistischen Diskurs schon bald mit großer Entschiedenheit gegen Israel gerichtet. Er verneint die Existenzberechtigung des jüdischen Staates und kehrt die Opfer-Täter-Rolle um: „Die Juden sind Täter, die Palästinenser sind Opfer.“

Sznaider geht auch auf das Buch „Question of Palestine“ ein, das auf Deutsch nicht erschienen ist, und referiert Edward Saids Kontroverse mit dem amerikanischen Philosophen Michael Walzer, der 1985 „Exodus and Revolution“ publiziert hatte. Während Walzer das Buch Exodus als Geschichte von Revolution, Freiheit und säkularer Erlösung liest, hält Said die ägyptische Gefangenschaft für einen historischen Mythos und Walzer für einen Handlanger des israelischen Kolonialismus.

Antisemitismus, verkleidet als Antizionismus

Edward Said hat mit dem Postulat, dass den Opfern der Geschichte ein überlegener epistemologischer Standpunkt zukommt, der Aufhebung der Unterscheidung von Wissenschaft und Politik, dem strategischen Universalismus und einem als Antizionismus drapierten Antisemitismus das Instrumentarium geschaffen, mit dem Postkolonialisten wie Achille Mbembe heute agieren. Mbembe steht auf Saids Schultern, auch wenn er mit seiner Berufung auf die „raison nègre“ noch andere Akzente als der Araber Said setzt.

Auf die deutschen Aufgeregtheiten dieser Tage geht Sznaider – wer möchte es ihm verdenken – nur am Rande ein. Er erwähnt einmal die Debatte um das Humboldt Forum und zitiert auch den Globalhistoriker Jürgen Zimmerer, dem das Verdienst zukommt, daran zu erinnern, dass es auch eine deutsche Kolonialgeschichte gibt, auch wenn sie schon 1919 endet und im postkolonialen Diskurs der letzten Jahrzehnte kaum eine Rolle gespielt hat. Sznaider betont allerdings, dass die Narrative Kolonialismus und Judenvernichtung historisch zu unterscheiden sind, auch wenn man sie politisch verknüpfen will.

Auch Michael Rothbergs „Wunschbegriff“ der Multidirektionalität überzeugt Sznaider als wissenschaftlicher Terminus nicht. A. Dirk Moses’ antisemitische Verschwörungserzählung vom angeblichen Katechismus der Deutschen würdigt er kaum einer Erwähnung, obwohl er ausweislich der Bibliografie alle diese Arbeiten rezipiert hat.

Hannah Arendts zweifelhafte Wende

1951, ein Jahr nach ihrer Einbürgerung, erschien Hannah Arendts Hauptwerk „The Origins of Totalitarianism“. Eingebettet in die Großkapitel „Antisemitismus“ und „Totale Herrschaft“ gibt es im Mittelteil „Imperialismus“ ein Kapitel über „Rasse und Bürokratie“, in dem sich Sätze finden, die den Postkolonialisten als Belege für Arendts „kolonialistische Wende“ dienen. Sznaider weist darauf hin, dass es hier um den britischen Imperialismus geht, dass – im Sinne von Fraenkels „Doppelstaat“ – der britische Normenstaat sich in Afrika zu einem „Maßnahmenregime in den Kolonien“ verwandelt. Es ging Arendt nicht um eine Verknüpfung von Kolonialismus und Holocaust, sondern „um die ständigen Gefährdungen einer Demokratie“, die sich hier zeigte.

Solange Schwarze und Juden gleichermaßen Angehörige diskriminierter Minderheiten waren, gerieten ihre Partikularismen nicht in Konkurrenz. Das hat sich in vieler Hinsicht geändert. Die afrikanischen Staaten haben sich von den europäischen Kolonialregimen befreien können. Es folgte ein Massenexodus von Juden aus Ländern wie Marokko und Tunesien, der viele nach Israel führte. Von den 140 000 algerischen Juden verließen nach dem Unabhängigkeitskrieg 130 000 das Land, die meisten gingen nach Frankreich.

In den USA zerbrach in den letzten Jahrzehnten die Allianz zwischen jüdischen und schwarzen Bürgerrechtlern. Während für viele verfolgte Juden die USA zum rettenden Land der Freiheit wurden, sind die Afroamerikaner von wirklicher Gleichberechtigung noch immer weit entfernt. Das trägt dazu bei, dass es heute einen militanten Antisemitismus in den USA gibt.

Wiederkehr des Historikerstreits

Das postkoloniale Denken hat viele Universitäten erobert und macht sich auch in der Black- Lives-Matter-Bewegung bemerkbar, wie Saul Friedländer, der in Los Angeles lehrt, berichtet. Er ist einer der vier Autoren des Paperbacks „Ein Verbrechen ohne Namen“. Eingeleitet wird der Band durch eine kurze Vorbemerkung von Jürgen Habermas, die nicht viel Substanz enthält, aber den prominentesten Protagonisten des Historikerstreits von 1986 mit ins Boot holt.

[Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Dan Diner: Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust. C.H.Beck, München 2022. 94 Seiten, 12 €.]

Das Buch versammelt eminente Gelehrte, die sich angesichts des streckenweise bescheidenen Niveaus des „Feuilletonkriegs“ veranlasst sehen, Altbekanntes noch einmal deutlich auszusprechen. So verweist Saul Friedländer, ein weltberühmter Holocaust-Forscher, darauf, dass der wahre Kontext des Holocaust „nicht der Kolonialismus, sondern die jahrtausendelange Gegnerschaft gegen Juden und Judentum, die neben anderen Faktoren die paranoide NS-Ideologie und ihre obsessiven Purifizierungspraktiken prägte.“

Norbert Frei gibt einen klugen Abriss der Auseinandersetzung mit Schuld und Erinnerung in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Wie Sybille Steinbacher macht auch Frei sich die Mühe, auf Moses’ „Mixtur aus derber Polemik und aktivistischer Agenda“ einzugehen und verweist darauf, dass dessen identitätspolitisches Angebot nicht nur für Linke, sondern auch für Rechte anschlussfähig ist.

Errungenschaften der Gedenkkultur

Steinbacher betont, dass es bereits seit 30 Jahren vergleichende Genozidforschung gibt, die den Holocaust auch im Kontext der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts thematisiert, ohne seine strukturellen Besonderheiten wie den unbedingten Vernichtungswillen deshalb zu ignorieren. Wie alle Autoren verteidigt auch Steinbacher die „hart errungenen Errungenschaften der Gedenkkultur hierzulande“, die natürlich keineswegs ausschließt, dass auch anderer Opfergruppen angemessen gedacht wird.

Am interessantesten in diesem insgesamt sehr lesenswerten Band ist vielleicht der Beitrag von Dan Diner. Er setzt mit seinen Überlegungen bei Raphael Lemkin ein, der im Auftrag der UNO eine Konvention zur Bestrafung von Völkermord entworfen und auch den Begriff Genozid geprägt hat. Dies war ein entscheidender Schritt hin zur Bestrafung von Massenverbrechen, wie sie von Staaten begangen werden. Gravierende Unterschiede zwischen den verschiedenen Massenverbrechen, der „Unterschied zwischen Tod und Tod“, dürfen dabei nicht aus dem Blick geraten.

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Diner sieht beim Historikerstreit von 1986 und der heutigen Kontroverse eine nahezu identische Argumentationsfigur, die darauf hinauswill, dem Holocaust seine Ursprünglichkeit abzusprechen. Hatte einst Nolte von einem logischen und faktischen Prius der bolschewistischen Bedrohung gesprochen, will der „Deutungshoheit beanspruchende gegenwärtige Trend den Holocaust der Gestalt kolonialer Gewalt anverwandeln“, die ihm als Prius vorausgehe.

Angesichts des rasseideologischen Vernichtungskriegs im Osten Europas sprach Winston Churchill 1941 von „a crime without a name“, darauf nimmt der Titel des Buches Bezug. Doch heute werden die Westalliierten zunehmend als Kolonialmächte wahrgenommen, ein Diskurs, der sich „wie Mehltau auf die Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs zu legen beginnt“.

Churchill wird, selbst im eigenen Lande, auf die Rolle eines Rassisten reduziert. Dazu schreibt Diner: „Sollte dies alles werden, was von Churchill bleiben soll, dann – so der sich aufdrängende Schluss – dürfte Hitler aus dem historischen Gedächtnis getilgt werden.“ Das darf nicht passieren.

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