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Musiker mit Mission. Das Kyiv Symphony Orchestra unter Leitung von Luigi Gaggero probt derzeit in Warschau.

© Dmytro Larin/KSO

Klassik im Krieg: „Unsere Waffe ist die ukrainische Musik“

Die andere Front: Das Kyiv Symphony Orchestra kommt auf Deutschland-Tournee. Die Musiker:innen verstehen sich als Botschafter für ukrainische Musik, gerade im Krieg.

Der Oboist spielt sich mit Tonleitern warm, es quietscht in der Leitung. Ivan Stetsky wechselt lieber den Raum. Hier im Konzertstudio des Polnischen Rundfunks in Warschau probt das Kiyv Symphony Orchestra (KSO) seit Anfang April. Zunächst waren viele Musiker:innen in die Westukraine geflüchtet, erzählt Stetsky, der junge Assistent des italienischen Chefdirigenten Luigi Gaggero, beim Videotelefonat.

Nun haben sie in Warschau Asyl gefunden, bevor es auf Tournee geht. Am Donnerstag treten sie in der Nationalphilharmonie auf, nach einem weiteren Konzert in Lodz reisen sie nach Deutschland. Dresden am 25. April, gefolgt von Leipzig, Berlin, Wiesbaden, Freiburg, Hannover und der Hamburger Elbphilharmonie am 1. Mai. Sieben Tage in sieben Städten, mit einem weitgehend ukrainischen Programm.

Eigentlich dürfen männliche Ukrainer unter 60 ihr Land nicht verlassen, wegen des Diensts an der Waffe. Aber die Orchestermusiker erhielten eine Ausnahmegenehmigung von den Ministerien, um mit den Kolleginnen auf Konzertreise gehen zu können.

„Es gibt unterschiedliche Fronten in diesem Krieg,“ sagt Stetsky. „Wir kämpfen an der Kulturfront. Unsere Waffe ist die ukrainische Musik.“

Die Verbindung ist schlecht, unser Gespräch ein Hindernislauf. Die Verständigung über patriotische Maximen in der Kultur ist auch inhaltlich nicht einfach. Tschaikowsky war ein Genie, sagt Stetsky, der am Konservatorium in Kiew Dirigieren studiert. Aber es sei jetzt nicht angebracht, Tschaikowsky zu hören. Nach dem russischen Komponisten ist auch das Konservatorium benannt – noch. Über eine Umbenennung wird in Kiew zur Zeit diskutiert.

Boykott aus Solidarität, gar ein Generalboykott der russischen Kultur? Für den angehenden Maestro ist das in diesen Tagen der Bombardements und Gräueltaten eine Selbstverständlichkeit. Natürlich hätten sie vor dem Krieg auch Tschaikowsky gespielt, „es war ein anderes, halbwegs normales Leben, trotz des Kriegs in Donezk und Luhansk. Aber wie können wir jetzt russische Musik hören, wo Russland die Ukraine brutal angegriffen hat?“ Stetsky sagt es freundlich, mehrfach betont er den Unterschied zwischen richtigem und falschem Zeitpunkt.

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Eine nachvollziehbare kulturnationalistische Haltung, die einen beschämt im lange so Putin-freundlichen Westen. Trotzdem kann man ihr nicht zustimmen. Kein Tschechow, kein Tschaikowsky? Bei einem Orchester, das Wert auf die internationale, europäische Musiktradition legt, auch mit der Wahl eines italienischen Chefdirigenten, der sein Kiewer Amt 2018 antrat? Die Kunst ist frei, das bedeutet, sie darf nicht vereinnahmt und nicht stigmatisiert werden.

Natürlich erklingt klassische Musik überall auf der Welt zu politischen Anlässen jedweder Couleur. 2021 spielte das KSO zum 30. Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes ebenso wie zum 25. Geburtstag der ukrainischen Verfassung.

Begonnen hatte das Ensemble vor 40 Jahren, als Tanzorchester mit Unterhaltungsprogrammen auch in Parks. Heute spielt es Mozart, Beethoven, die Werke des 20. Jahrhunderts, engagiert sich für die musikalische Bildung und unterhält eine eigene Orchester-Akademie für die Ausbildung des Musikernachwuchses. Noch zwei Tage vor Kriegsbeginn probte das Kyiv Symphony Orchestra für einen Wagner-Abend mit dem deutschen Bariton Matthias Goerne. Das Konzert konnte dann nicht mehr stattfinden.

Ukrainische Musik hat eine freie Seele, sagt der Assistent des Chefdirigenten

Welche ukrainische Musik steht auf dem Tourneeprogramm, wie klingt diese „Waffe“? Ivan Stetsky erzählt von Maxim Berezovsky und dessen 1. Symphonie. Berezovsky gilt als der „ukrainische Mozart“, der Komponist studierte wie Mozart in Bologna.

„Es ist eine der ersten ukrainischen Sinfonien überhaupt, energetische, fröhliche Musik,“ sagt Ivan Stetsky. Borys Ljatoschynskyj wiederum, Jahrgang 1895, begründete die musikalischen Moderne in der Ukraine. Nachdem er auch in Moskau wirkte, leitete er unter anderem die Staatliche Philharmonie in Kiew und wurde ein bedeutender Lehrer. Die Russen warfen ihm Formalismus vor, er hatte unter Zensur zu leiten.

Seiner 3. Symphonie, die ebenfalls auf dem Programm steht, musste er einen optimistischeren Schluss verpassen, das Motto „Der Frieden wird den Krieg besiegen“ wurde getilgt. „Ljatoschynskyi hat ukrainische Volksmusik in seine Werke eingebaut, gleichzeitig wandte er den Blick nicht ab von der schwierigen Zeit, in der er lebte“, sagt Stetsky. Der Schmerz, der Horror, alles sei in dessen kraftvollen Werken enthalten.

[Das Berliner Gastspiel des KSO findet am 27. April in der Philharmonie statt, um 20 Uhr. Mit der Geigerin Diana Tishchenko als Solistin, die u.a. Myroslav Skoryk populäres Stück "Melodie" spielt. Tickets: www.berliner-philharmoniker. de ]

Ein Orchester auf Mission: Die Menschen im Westen sollen teilhaben an der ukrainischen Musikkultur, sie besser kennenlernen. Intendantin Anna Stavychenko organisiert deshalb nicht nur ein Projekt mit der Philharmonie de Paris, um geflüchteten Musiker:innen aus diversen ukrainischen Orchestern die Arbeit in französischen Orchestern zu ermöglichen, wie sie dem Klassik- Magazin „Van“ berichtete.

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]

Gemeinsam mit Partnern bestückt sie außerdem die Online-Plattform ukrainianlive.org mit Partituren ukrainischer Kompositionen als Gratis-Downloads. Für Ensembles, die sich mit ukrainischer Klassik nicht auskennen, werden auf Wunsch auch Konzertprogramme zusammengestellt: Kuratorentätigkeit in Kriegszeiten. Auf der Webseite finden sich neben zahlreichen Infos auch ein Komponistenlexikon mit Hörbeispielen, die über die App „Ukrainian Live Classic“ abgerufen werden können.

Die ukrainische Musik hat eine freie Seele, sagt Ivan Stetsky, sie wurde immer wieder bedrängt. „Wir Ukrainer brauchen die Freiheit, und die Sehnsucht danach steckt in unserer Musik.“ Nach der Tournee will er nach Kiew zurückkehren, zu seiner Familie, seinen Freunden. Oder wird er notgedrungen im Westen weiterstudieren? Die Zukunft ist ungewiss.

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