zum Hauptinhalt
Melodiöse Konzeptkunst mit Club-Feeling. Oliver Schmid und Anna Kubelík und das Wohltemperierte Hygrometer.

© drj art projects, Matthias Seidel / VG Bildkunst, Bonn

Klangperformance mit Club-Feeling: Der Moment, in dem alles möglich scheint

Eine Ausstellung in der drj-art-project-Programmgalerie in Schöneberg macht auf das Nicht-Sichtbare aufmerksam. Das Virus lässt sich dabei kurz vergessen.

Als Oliver Schmid den Violinenbogen über die Kante der Xylofonplatte streicht, kribbelt es auf der Kopfhaut. Das fühlt sich erst unangenehm an und dann wunderschön. Langsam fließt der Schauer weiter bis in die Fingerspitzen. Kurze Zeit später ertönen Schläge. Ungefähr 170 Mal pro Minute trommelt Schmid auf gestapelte Schichtholzkästen.

Mit geschlossenen Augen fühlt sich die Ausstellung „insight unheard of…“ in der kleinen drj-art-projects-Programmgalerie, plötzlich viel größer an. Der Sound erinnert an dunkle Hallen und viele Menschen, an den Anfang einer Nacht. An den Moment, kurz vor dem Einsetzen der Synthesizer, in dem noch alles möglich scheint. Ein Gefühl, das in letzter Zeit sehr selten ist.

Dann legt Anna Kubelík kleine Metallkugeln auf die oberste Kiste, die hüpfen unter den Trommelschlägen auf dem Holz herum, machen merkwürdige Geräusche und fallen langsam zu Boden. Das Club-Feeling ist vorbei, man steht wieder in der Programmgalerie mitten in Schöneberg, auf grünem Linoleum und wohnt einer Klangperformance bei.

Schmid und Kubelík haben die Inszenierung zusammen kreiert, während einer Künstlerresidenz in Ahrenshoop vergangenen Sommer. Sie ist die Weiterentwicklung von Kubelíks Wohltemperiertem Hygrometer. Einer Skulptur, die über beide Räume verteilt an der Decke hängt und seit 2013 stetig mit anderen Klangkonzepten weiterentwickelt wurde. Die Konstruktion, nun in ihrer dritten und neuesten Version, besteht aus viertausend Einzelteilen.

Das Eschen- und Pinienholz wurde einzeln geschnitten, gefeilt, gebohrt, gestanzt. Rosshaar, abwechselnd von blonden- und dunkelhaarigen Pferden, dient zur Stabilisierung, ebenso wie Aluminium und Bleigewichte.

Die Skulptur ist verkopft, die Performance dafür umso sinnlicher

Die Skulptur soll eine geometrische Interpretation des Klaviers von Johann Sebastian Bach sein, das Rosshaar erinnert an Klaviersaiten. Dann ist die Konstruktion auch noch Luftfeuchtigkeitsmessgerät, wie der Name schon verrät. Die kleinen Holzstäbe verändern sich je nach Wetter oder Anzahl der Menschen im Raum. Die Arbeit ist ästhetisch beeindruckend, aber auch sehr kompliziert, geradezu verkopft.

Dafür ist die Performance umso sinnlicher. Schmid wechselt das Zimmer, nutzt die Xylofonplatten nun, wie man es kennt. Mit Holzstäben schlägt er die ersten Töne an, zaghaft, dann immer schneller. Irgendwann ist der Raum von einer Melodie erfüllt, die ein bisschen an die Grandbrothers erinnert. Schmid ist Musiker. Er studierte Schlagzeug und Klavier in der Schweiz.

[Behalten Sie den Überblick über die Corona-Entwicklung in Ihrem Berliner Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihre Nachbarschaft. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.]

Momentan ist er jeden Freitag und Samstag in Schöneberg und führt die etwa dreißigminütige Performance mehrmals hintereinander auf, als Privatkonzert sozusagen, immer nur für zwei Gäste. Die Ausstellung soll bis zum 2. Mai laufen.

Beim Galery Weekend, so stellen es sich die Betreiber:innen Christiane Bail und Matthias Seidel vor, könnten dann die Fenster geöffnet werden und mehr Besucher:innen hätten die Möglichkeit, den Klängen zu lauschen. Das könne den Sound total verändern, sagt Seidel. „Hoffentlich klappt das, trotz Corona.“

Auf Polygonalen Leinwänden experimentiert ein anderer Künstler mit technischen Laborfarben

Zu der aktuellen Ausstellung gehören auch noch die Arbeiten von einem dritten Künstler: Die Malereiobjekte von Matthew Hawtin sind unauffällig. Sie hängen verteilt im Raum, manche weit oben, andere weit unten an der Wand.

Auf kleinen, polygonalen Leinwänden experimentierte Hawtin während des Lockdowns mit technischen Laborfarben, die als Mittel zum Nachweis, beispielsweise von Zellstrukturen, in der Forschung eingesetzt werden. Auch eine Anzeige, ähnlich wie das Hygrometer. Die Bildträger passen zu dem, was hier gezeigt werden soll: das Nicht-Sichtbare.

Stattdessen soll wahrgenommen werden, was stets da ist, dessen wir uns aber nicht ständig bewusst sind. Zum Beispiel Luftfeuchtigkeit oder Klänge. Gleichzeitig kann vergessen werden, was sonst omnipräsent ist: das Virus. Joana Nietfeld

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false