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Am Rande der Popmusik. Performerin Liz Harris kämpft als Nivhek gegen die Auflösung des Subjekts.

© Helge Mundt

Klangkunst abseits des Mainstreams: Das Atonal-Festival macht Berlin zum audiovisuellen Erlebnispark

Von Musique-Concrète bis Techno und Tanz: Das Atonal-Festival bietet fünf Tage lang Klangkunst - mit apokalyptischer Einfärbung.

Reichlich düster ist die Stimmung in Bezug auf die allgemeine Weltlage gerade, und das Atonal-Festival im Kraftwerk spiegelt sie mit äußerster Konsequenz. Musik, Performance und Kunst mit apokalyptischer Einfärbung: Damit wird das ehemalige Heizkraftwerk Mitte mit den im Gebäudekomplex untergebrachten Clubs Tresor, Globus und OHM wieder für fünf Tage zum audiovisuellen Erlebnispark für Tausende, größtenteils schwarz gekleidete Leute aus aller Welt, die sich gerne melodiefreie Musik mit grenzwertigen Frequenzen anhören.

Neben Konzerten und DJ-Sets an der Schnittstelle von Geräuschmusik und Clubkultur werden dabei auch wieder Kunstobjekte, Installationen und Filme präsentiert. Allen voran Nervous System 2020, eine spektakuläre Installationsperformance aus Tanz, Sound und holografischen Bildern von Guillaume Marie, Marcel Weber and J. G. Biberkopf, mit drei Figuren in großen Schaukästen, deren Bewegungsabläufe weniger Tanz als abstrakte Bewegungsanalysen sind. Ein weiterer Höhepunkt wird am Samstag die Live-Performance von Cyprien Gaillard sein, der eine Adaption seines Beitrags „Ocean II Ocean“ für die diesjährige Biennale in Venedig zeigen wird.

Am Mittwoch begrüßten einen bei der Eröffnung in der Eingangshalle die Polyurethan-Skulpturen von Folkert de Jong, die westliche Kolonialherren als Totemfiguren zeigen und eine Tiki-Bar-Atmosphäre in die Industriekathedrale bringen, was wie ein verspäteter Kommentar zu Throbbing Gristles Begeisterung für den tropisch eingefärbten World Jazz des Pianisten Martin Denny wirkt.

Schön skurril ist auch der Geisterchor von Ho Tzu Nyens Multimedia-Installation „No Man II“, ein auf Spiegelglas projizierter Film, der den Zuschauer mit einer wilden Ansammlung von singenden Anime-Figuren in eine Welt mitnimmt, die im digitalen Wahn das eigene Ich aus den Augen verliert.

Dagegen ist die von Cécile Beau und Emma Loriaut bereitgestellte Installation „Reversion“ fast schon meditativ. In drei Vitrinen werden auf schwebenden Felsen Silberkristalle gezüchtet, deren Wachstum über die Dauer des Festivals zu bewundern ist.

Ein Hauch Jüngstes Gericht schwingt durch den Raum

Das Gegenstück zu dieser Entschleunigung ist „The Retrospective View of the Pathway“ von Roger Hiorns – ein kinetisches Kunstwerk, bei dem drei Figuren grotesk zerlegt an der Wand hängen und in unregelmäßigen Abständen auf den Boden knallen. Als Zuschauer sucht man unwillkürlich nach dem Sinn oder der Botschaft. Geht es um Machtkämpfe? Entfremdung? Weltuntergang?

Auch auf das Musikprogramm muss man sich seinen eigenen Reim machen. Zunächst umwölkt Annie Gårlid alias UCC Harlo das Publikum mit einer Mixtur aus Soprangesang und Schüttel-Elektronik, bevor Pavel Milyakov einen mit nachdenklichem Musique-Concrète-Gepolter beglückt und dann einer auf die Bühne kommt, mit dem hier wohl keiner gerechnet hat: Mark Lanegan.

Vor 35 Jahren begann er seine Karriere als Frontmann der Grunge-Pioniere Screaming Trees und driftete als Solokünstler immer wieder in die besinnliche Singer-Songwriter-Ecke ab.Immer noch schwingt ein Hauch von Jüngstem Gericht durch den Raum, wenn der Ex-Kumpel von Kurt Cobain mit seinem Bariton-Organ sogar die biblische Gravitas eines Johnny Cash in den Schatten stellt.

Passenderweise nennt er sich nun Dark Mark und hat sich für das neueste Projekt mit dem Dark-Elektro-Tüftler Alessio Natalizia alias Not Waving zusammengetan. Statt krachender Rockgitarren dominieren schleppende Downtempo-Beats und atmosphärische Elektronik-Klangflächen, die sich ins Bewusstsein schleichen, während Lanegan den Prediger am Straßenrand simuliert und zum nihilistischen Leidensmann wird.

Viel Hall und schimmernde Loops

Und es wird noch schattiger. Liz Harris präsentiert sich mit ihrem neuen Projekt Nivhek als Performerin am Rande der Popmusik, deren introspektive Wunderlichkeit eine fantastische Stunde lang den Moment festhält, in dem das Subjekt gegen seine Auflösung kämpft und gleichzeitig sein Verschmelzen mit der Musik zelebriert. Dabei schwebt eine verhängnisvolle Ahnung über den schummrigen Klängen, unter deren Oberfläche permanent kleine Wirbel aufsteigen.

Hier ein schimmernder Loop, dort eine verschwommene Gitarrenfigur, viel ätherischer Gesang und noch mehr Klaviergeklimper, dazwischen ein kurzer Lärmausbruch und darunter ein zumeist verschlurftes Grundrauschen. Es ist nicht allein das Volumen ihrer mit Hallfilter und Pedalecho ins Unendliche ausgreifenden Musik, sondern ihre spirituelle Entrückung und Dichte, die einen packt.

Ganz anders, aber kaum weniger verträumt fällt der Auftritt des australischen Duos HTRK (Haterock) im Erdgeschoss aus. Um Mitternacht gibt Sängerin Jonnine Standish die unterkühlte Domina, die mit ihrem Nuschelgesang schlaftrunken durch die Melodien taumelt, während Gitarrist Nigel Yang die traurigsten Schauer-Riffs im Echo versenkt und pluckernde Elektrobeats den Stücken rhythmischen Halt geben. Keine Projektionsfläche für Befindlichkeiten, sondern Dream-Pop-Psychedelia für den Dämmer kurz vor dem Aufwachen.

[Kraftwerk, Köpenicker Str. 70, bis kommenden Sonntag, berlin-atonal.com]

Irgendwann sehnt man sich dann nach mehr Adrenalin und bekommt auch gleich fette Bässe geliefert, als der britische Club-Veteran dBridge alias Darren White sein Drum-&-Bass-Handwerk mit kernigen Dub-Salven vermengt, während im OHM der blutjunge DJ Metrist einen oberflotten Mix aus Jungle-Beats und zappeligen UK-Bass-Techno-Sounds abspult. Was könnte jetzt schöner sein als diese plötzliche Wachheit, in freudiger Erwartung dessen, was in den nächsten Tagen noch kommt? Muss ja nicht alles finster sein.

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