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Bergman

© AFP

Ingmar Bergman: Die entblößte Seele

Europas Ängste und das Universum der Frauen: die bewegende Bilderwelt des Ingmar Bergman.

Er ist auf seiner Ostseeinsel gestorben, im eigenen Bett, auf Farö. Sein Herz hat aufgehört zu schlagen. Ein friedlicher Tod. Ein Trost. Nein, nur ein Bild, das aufblitzt. Ein Mann, 89 Jahre alt, in einem Haus auf einer Felseninsel, schwarzes Gestein, weißer Horizont, neben ihm eine Tochter und der Schwiegersohn. Wie das Licht jetzt wohl ist? Gleißend wie die Sommernächte in "Die Zeit mit Monika"? Blendend vor Lust und Schrecken wie in so vielen Filmen des hellsichtigsten Regisseurs seit Erfindung des Kinematografen? Ingmar Bergman ist tot, der Magier und Aufklärer, der Gaukler und Melancholiker, der Kinoerzähler und Theaterdirektor, der Berserker, der Kindskopf, der Seelensucher. "Auf einem unbedeutenden wirklichen Grunde spinnt die Einbildung weiter und webt neue Muster." Der berühmte Strindberg-Satz, zitiert am Ende von "Fanny und Alexander", Bergmans letztem großen Kinofilm von 1982, evoziert ein Flackern auf der Netzhaut.

Muster, die nicht veralten. Ja, der hagere Mann mit dem schmalen Gesicht war ein denkbar freigiebiger Erzähler. Über 50 Filme hat er gedreht, darunter etliche Meisterwerke, rund 120 Theaterstücke und Opern inszeniert, umjubelt in Malmö und Stockholm, umstritten in seiner Münchner Zeit in den späten siebziger Jahren. Und noch in den allerletzten Drehbüchern und TV-Filmen hat er die Geschichten fortgesponnen, das Drama der eigenen Eltern in "Die besten Absichten" oder, in "Sarabande", das Fortleben von Marianne und Johan aus "Szenen einer Ehe". Aber es sind einzelne Bergman-Bilder, schockgefrorene Kinomomente, die bleiben. Seine Filmkunst beschwört unsere Urängste, entfesselt und bannt sie zugleich: die Todes- und die Lebensangst, den Schmerz, die Einsamkeit, den Verrat und die Gewalt des Sexus, der sich Bahn bricht zwischen Sünde und Selbsthass.

Victor Sjöström, der todesbange Professor in "Wilde Erdbeeren", der sich im Sarg liegen sieht und eines langen Tages Autoreise durch die eigene Lebensnacht antritt. Der mittelalterliche Totentanz, Europas Kreuzzügler im Schachspiel mit dem Teufel, Silhouetten mit Sichel vor schwerem Gewölk in "Das siebente Siegel". Der bei lebendigem Leib verbrennende Bischof in "Fanny und Alexander". Ingrid Thulins Gesicht, als sie in "Das Schweigen" voller Ingrimm onaniert. Dazu ein im Dunkel des Varietés kopulierendes Paar und eine durchaus züchtig gefilmte Analverkehr-Szene: Wegen dieser 118 Sekunden Sex machte Bergman Skandal, damals, 1963.

Dabei ist das eigentliche Skandalon von Bergmans Filmen die entblößte Seele. Die Sensation des menschlichen Gesichts in Großaufnahme. Kindergesichter. Frauengesichter. Bergman kannte keine Scheu, dabei war er nie kalt, nur ein radikaler, unverblümter Menschenfreund. Seine Filme sind ohne Sigmund Freud nicht denkbar, aber seine Analysen bei aller Schärfe doch gütig. Als Komplize der unerlösten, von allen guten Geistern verlassenen und dennoch himmlischen Geschöpfe des 20. Jahrhunderts, in dem die Menschen einander womöglich mehr Leid zugefügten als je zuvor, war er zugleich auch ein Bekenner. In seiner Autobiografie "Mein Leben" hat er die eigene Schuld und Triebhaftigkeit, die Unfähigkeit zum edlen Menschsein so erschütternd wie herzerfrischend offen eingestanden.

Kindergesichter. Da ist der Zehnjährige in "Fanny und Alexander", der aus der Familienhöhle vertrieben wird, die immer auch die Hölle ist. Am Ende wird im Kreise der Lieben gefeiert. Da ist der staunende Blick von Johan in "Das Schweigen". Eine kalte Stadt, ein öder Planet, ein Junge zwischen zwei Frauen und eine Welt zwischen Trauma und Traum. Dieser blinde Passagier an einem Mysterienschauplatz, das ist er selbst, Ingmar Bergman, am 14. Juli 1918 im schwedischen Uppsala ins großbürgerliche Milieu hineingeboren, als Sohn eines gestrengen Pastors und einer verhärmten Mutter. Seitdem kämpfte er, um die verschollene Kindheit, die verlorenen Zeit, mit der sadistischen Unerbittlichkeit des Protestantismus, mit den Dämonen des Jahrhunderts - als Austauschschüler begeisterte er sich 1936 in Weimar für Hitler -, mit der Scham, der unstillbaren Neugier, den eigenen, erotischen Obsessionen.

Frauengesichter. Sechs Mal war Bergman verheiratet und mit etlichen Schauspielerinnen ohne Trauschein liiert, auch mit Liv Ullmann. Er war ein RegieDiktator und trug sie liebend auf Händen. Er verzehrte sich und konnte nicht treu sein, belog, betrog, hatte acht Kinder, bei keiner Geburt war er dabei. In seinen Filmen legte er die Wunden frei, die der Krieg der Geschlechter den Frauen schlägt, nicht nur in "Szenen einer Ehe".

Die Bergman-Frauen: Extremistinnen der Gefühle. Die ungestüm Liebenden in den neorealistischen Schwarzweiß-Werken. Blicke, große Augen, Hände. Das ineinandergeblendete Bild von Bibi Andersson und Liv Ullmann in "Persona", zwei Identifikationen einer Frau. Die blutjunge Harriet Andersson, kaugummikauend, rotzfrech und unerhört sinnlich, wie sie in "Die Zeit mit Monika" den damals verpönten Blick direkt in die Kamera wagte: Plötzlich schaute das Kino zurück! Die elend und panisch liebende Gattin (Ingrid Thulin) in Bergmans düsterstem Film "Licht im Winter". Ingrid Bergman und Liv Ullmann im Mutter-Tochter-Krieg der "Herbstsonate". Die einander bis aufs Blut quälenden Tschechow-Schwestern in "Schreie und Flüstern". Das Pietà-Bild mit der Dienstmagd als Madonna und der sterbenden Agnes als Märtyrerin. Und wieder Ingrid Thulin, wie sie sich mitten in dieser schwarzweißrotglühenden Elegie auf eine kränkelnde Bourgeoisie eine Glasscherbe in die Vagina schiebt, in einem quälenden Protestakt gegen die permanente eheliche Demütigung. Autoaggression als letzte Notwehr.

Mit elf Jahren hatte Ingmar Bergman seine Zinnsoldaten-Armee gegen den Kinematografen des Bruders eingetauscht. Fortan verlor er alle Kinderzimmerschlachten, gewann dafür aber diesen Stummfilm, "Frau Holle", in dem eine junge Frau auf einer Wiese erwachte, sobald er an der Kurbel drehte: "Sie bewegte sich!" Seit dieser ersten jubelnden Inbesitznahme eines verführerischen Mädchenbilds galt Bergmans begeisterter, verwirrter, süchtiger Blick im Zirkus der Traumgesichte und Lichtgestalten lebenslang ihnen, den Frauen.

Das hat er mit Federico Fellini und Michelangelo Antonioni gemeinsam. Sie bilden das Dreigestirn der europäischen Kinogenies, und sie sind die faszinierten, unerschrockenen Regisseure der Frauen - nicht zur Freude der Feministinnen, die in den Männerfantasien das Emanzipierte vermissen. Aber Bergmans Theater der Körper, seine Expeditionen ins Unbewusste, seine mal komödiantischen ("Ach, diese Frauen!"), mal mörderischen Reigen der Zweisamkeit sind unbedingt ehrlich und unendlich zärtlich. Sie schwitzen nicht, diese Fantasien. Wenn es denn welche sind. Was Bergman auch erzählte, er sprach immer von sich und den Seinen, von der Kindheit zwischen den Kriegen, von den Wimpernschlägen, zwischen denen er wahrnahm, was das Leben der anderen mit der eigenen, privaten Welt verband. Der Schmerz der Mutter, die eingezwängt in Konventionen in ihrer Ibsen-Ehe mit dem Pastor verkümmerte. Die Lebenslust der Dienstmägde, Kusinen und Tanten (Tante Alla weihte den Achtjährigen in der Badewanne mit wenigen Handgriffen in die Geheimnisse des Geschlechtlichen ein). Die warmherzige Großmutter, die hinter dem Rücken elterlicher Autorität kleine Glückseligkeiten verschenkte, wie in "Fanny und Alexander". Die Geliebten, die sich seiner Kamera auslieferten. Die Verzweifelten, die Trotzigen, die sich verstümmeln, sich verweigern, sich befreien. Die Männer, wie etwa Erland Josephson sie spielte, sind seelische Analphabeten. Die Frauen ringen um Ausdruck und treffen mitten ins Herz.

Bergmans Utopie: Er wollte die Menschen berühren, wollte sie und sich im emphatischen Wortsinn verstehen, um den Preis der Harmonie. Das Leben, eine Erregung, das Filmemachen, ein erotischer Akt - gegen die Gleichgültigkeit.

Jahrzehntelang war Bergman unversöhnt, mit sich selbst, der Familie, seinem Land. Erst im hohen Alter begann er, seine Erinnerung in ein milderes Licht zu tauchen, wie in "Dabei, ein Clown", der liebevollen TV-Hommage an einen verrückten Halbonkel. Der Tod ist darin ein altes Weib mit entblößter Brust und runzliger Haut. Aber auch: eine Theaternärrin, eine Gauklerin. Wer weiß, wenn sie Ingmar Bergman nun in Empfang nimmt, weckt sie für ihn vielleicht die junge Frau Holle. Und das Kind, das der große Menschenregisseur Ingmar Bergman immer geblieben ist, jubelt wie damals, weil sich in der Schattenwelt etwas bewegt.

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