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Rückkehr. Ulrich Köhler (rechts) mit seinem Hauptdarsteller Jean-Christophe Folly beim Dreh von „Schlafkrankheit“.

© Farbfilm Verleih

Fremde Heimat: "Schlafkrankheit": Lego im Kongo

Wo willst Du leben? Regisseur Ulrich Köhler spürt im Spielfilm "Schlafkrankheit" seiner afrikanischen Kindheit nach. Eine Begegnung.

Früher war Heimat da, wo die Wiege stand. Oder wo man seinen Hut hinlegte. Oder wo die Mutter die alten Poster an der Kinderzimmerwand hängen gelassen hatte. Oder sonstige Romantizismen. „Heute ist der Begriff dadurch, dass es keine Großfamilien mehr gibt, in denen das Leben weitergeht, oft negativ besetzt: Immer, wenn man zurückkommt, fehlt etwas. Jemand ist gestorben oder die Spielwiese ist überwuchert.“

Findet Ulrich Köhler, der seinem neuen Spielfilm einen Teil seiner eigenen Vergangenheit und damit auch einen seiner vielen möglichen Heimatorte mitgab. In „Schlafkrankheit“, mit dem er im Februar den Silbernen Bären für die beste Regie gewann, lässt der 41-jährige Wahlberliner seinen Protagonisten nach einem Zuhause suchen. Erst sucht er, dann verschwindet er: Der deutsche Arzt Ebbo (Pierre Bokma), der ein Krankenhaus in Kamerun leitet – wie Köhlers Vater das in den fünf Jahren zwischen Köhlers viertem und neunten Lebensjahr im Kongo (damals Zaire) getan hat –, plant, nach Deutschland zurückzukehren. Seine Frau und seine Tochter fahren vor. Ebbo telefoniert mit ihnen, dann trinkt er ein Bier und weint. Er wird nicht nachkommen. Europa scheint nicht mehr seine Heimat zu sein.

In der zweiten Hälfte, die Köhler nach einem radikalen Schnitt mit fast komplettem Personal-, Perspektiv- und Storywechsel anfügt, kommt der französische Arzt Alex (Jean-Christophe Folly) nach Kamerun, um Ebbo und sein Krankenhaus zu evaluieren. Doch Ebbo ist verschwunden. Und Alex, der dunkle Haut hat, dessen Heimat aber das sichere Europa ist, versucht, ihn in einem verwirrenden Afrika voller Dschungelgeräusche und Schwüle wiederzufinden.

Ulrich Köhlers Figuren haben, unter anderem aufgrund ihrer Verschlossenheit, etwas Einsames. Das vielleicht auch aus der Erfahrung stammt, die Köhler als kleiner Junge im Kongo gemacht hat: „Wir waren kleine Stars, Privilegierte, die das auch schamlos ausnutzten.“ Außenseiter qua Hautfarbe, aber auch qua sozialem Status: „die Einzigen mit Fahrrad, mit Playmobil und Lego“. Es war eine naturverbundene, glückliche Zeit, sagt er dennoch, und der Schock, als der Neunjährige mit Bruder und Familie ins Städtchen Diez an der Lahn zurückkehrte, war riesig. Köhler beendete die Schule, ging zum Kunststudium nach Frankreich, nach dem Zivildienst dann nach Hamburg, zum Studium der Philosophie und später Visueller Kommunikation, vor sieben Jahren zog er nach Berlin. Seine Freundin ist ebenfalls Regisseurin. Maren Ades „Alle anderen“, ein hochsensibles Beziehungsdrama eines jungen Paares, wurde auf der Berlinale 2009 mit zwei Bären ausgezeichnet. Und damit ist Berlin plötzlich so etwas wie Heimat: „Ich kann mir überhaupt nicht mehr vorstellen, in einer Kleinstadt zu leben“, sagt Köhler. „Lieber wirklich auf dem Dorf. Oder eben in der Großstadt.“

Das nachdrückliche Sinnieren, das sich bei Köhler von seiner Sprache bis zum Filmemachen durchzieht, und das bereits in seinem ersten Langfilm „Bungalow“ von 2002 (über ein paar Tage im Leben eines unentschlossenen Deserteurs) überzeugte, scheint eher Charakterzug als bewusste Inszenierung. Köhler erzählt, dass er die ersten Schuljahre in Afrika von seiner Mutter unterrichtet wurde, einer ausgebildeten Lehrerin. Und dass er sich vielleicht darum in Gruppen lange Zeit „unwohl“ gefühlt habe. In seinen Filmen, die gemeinhin der obskuren „Berliner Schule“ zugeordnet werden, zeigt er stets zwei, zuweilen entgegengesetzte Ebenen: Das Innere der Figuren, das sie nicht aussprechen, immer nur andeuten. Und die starke Außenansicht, die Umgebung, die – egal, ob der Urlaubsbungalow, das Hotel in Kassel oder die wackelige Klinik im afrikanischen Dschungel – stark auf die Figuren wirken, ihr Verhalten manchmal erst zu evozieren scheinen.

„Lange hab ich daran gezweifelt, ob ich moralisch überhaupt das Recht habe, einen Film in Afrika zu drehen“, sagt Köhler, der beim Gespräch in einem hübsch begrünten Büro-Hinterhof in Mitte sitzt. „Erst als ich die Entscheidung gefällt habe, dass es um einen Europäer gehen wird, und dass so meine eurozentrische Perspektive abgebildet wird, habe ich mich dazu in der Lage gefühlt.“ Seine Eltern, erinnert er sich, hätten immer einen Dokumentarfilm erwartet, doch das habe er sich nicht vorstellen können: „Ich fühle mich schnell als Ausbeuter, wenn ich eine Kamera zwischen mich und einen Menschen stelle, vor allem, wenn der soziale Status sich unterscheidet. Mit Schauspielern ist das anders, mit denen habe ich einen Vertrag, das ist ihr Beruf, die wissen, was sie tun.“ Köhler erzählt von der Idee hinter „Schlafkrankheit“, der eigentlich kein Afrikafilm ist, sondern ein Phänomen behandelt, das sich auch in anderen Ländern hätte zutragen können: Entfremdung, die Suche nach sich selbst und das, was man dabei findet. Und von Joseph Conrads Roman „Herz der Finsternis“, der den zweiten Teil des Films inspirierte, und vom Thema Kolonialisierung, das immer mitschwingt.

Köhler ist bei der Darstellung der fremden ehemaligen Heimat vorsichtig, obschon man die kompromisslose Dramaturgie seines Films als extrem mutig bezeichnen kann. „Eigentlich“, sagt Köhler, „kann einem eine klassische, simple Dramaturgie ästhetisch große Freiheiten geben, aber letztlich habe ich doch Angst, dass ich etwas verliere, wenn ich meinen Film zu sehr in ein dramaturgisches Schema presse.“ Und so hat er sich, wie auch in den Filmen davor, für eine persönlichere Erzählweise entschieden.

Die Charaktere in „Schlafkrankheit“ haben zwar nichts mit dem Regisseur zu tun, abgesehen von einem ihm aus der Vergangenheit bekannten Ausgangspunkt. Dennoch trägt der Film eine unverkennbare Handschrift: Köhler lässt den Zuschauer über die Protagonisten an seinen eigenen Konflikten teilnehmen. Das ist ein Angebot, kein Muss. Die Entscheidung, wie tief er sich in den Dschungel hineinwagt, muss jeder für sich treffen.

„Schlafkrankheit“ läuft ab Donnerstag in sechs Berliner Kinos.

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