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Alberto Barbera leitet auch in diesem Jahr die Filmfestspiele von Venedig.

© dpa

Filmfestspiele von Venedig: "Sexuelle Gewalt ist eine Metapher für das Leiden einer Gesellschaft"

Alberto Barbera leitet das Filmfest Venedig. Er erklärt, wie er mit wenig Geld gute Filme anlockt, worum es ihnen dieses Jahr geht – und was er von der Berlinale hält.

Alberto Barbera

1963 im piemontesischen Biella geboren, hat in Sachen Film vielseitige Erfahrung. Ab 1980 für einige Jahre Filmkritiker bei der Turiner Tageszeitung Gazzetta del Popolo, arbeitete er seit 1982 für das Filmfestival Turin und wurde von 1989 bis 1998 dessen Chef. Von 1999 bis 2001 hatte er bereits einmal die Leitung des Filmfestivals von Venedig inne, wurde jedoch vor Ablauf seines Vertrages - trotz einhelligen Branchenlobs für sein profiliertes Programm - vom Kulturministerium der zweiten Regierung Berlusconi abberufen. Kurze Zeit Co-Chef des Filmfests von Alessandria, wurde er 2004 Direktor des Turiner Filmmuseums. Im vergangenen Jahr übernahm er, mit einem Vierjahresvertrag, erneut die Leitung des Filmfestivals von Venedig.

Signore Barbera, was muss ein Filmfestchef ins Amt mitbringen?

Liebe, Leidenschaft, Neugier für den Film, das ist das Wichtigste. Dazu kommt ein Händchen fürs Diplomatische, im Umgang nicht nur mit Regisseuren und Produzenten, sondern zunehmend auch mit Agenten, Weltvertrieben und Verleihern. Und: Man muss organisieren können. So ein Festival ist eine riesige, komplexe, empfindliche Maschine.

Was ist für Sie die größte Herausforderung?

Die Programmauswahl. Die Gefahr, sich zu irren, lauert an jeder Ecke. Jedes Jahr werden mehr Filme zu den großen Festivals eingereicht. In kaum zehn Wochen haben wir 1.600 Langfilme und etwa 3.000 Kurzfilme gesichtet. Wir sind zu siebent im Auswahlkomitee – und nur 100 Filme konnten wir schon vorher sehen, von März bis Mai. Das fordert enorme Konzentration: Man muss praktisch sofort entscheiden und zugleich auf eine gewisse Harmonie und Kohärenz der ausgewählten Filme achten. Schwierig ist es auch, manchmal Nein zu sagen zu Regisseuren, die man gut kennt und die vielleicht sogar Freunde sind. Doch diesen Mut muss man aufbringen.

Vor Ihrer Rückkehr im vergangenen Jahr auf diesen Posten haben Sie schon drei Venedig-Festivals verantwortet. Wie ist der Neustart gelaufen?

Ich kam mit drei Zielen wieder: das Programm verschlanken, einen Filmmarkt gründen und etwas für den Regienachwuchs tun. Das hat sehr gut funktioniert. Mit weniger Filmen – wir zeigen auch dieses Jahr rund 60 – verpasst man weniger, und der Rhythmus ist für den Zuschauer nicht so frenetisch und chaotisch. Der Filmmarkt, zwar noch keine Messe wie in Cannes oder Berlin, wird weiter wachsen. Und unser Projekt Biennale College Cinema, mit dem wir jeweils binnen eines Jahres drei junge Filmemacher von der Idee bis zum fertigen Film fördern, fand große internationale Resonanz. Nun zeigen wir die ersten Ergebnisse, sie sind gut geworden.

Andererseits leidet Venedig unter einer stark renovierungsbedürftigen Infrastruktur. Wo ein neuer Festivalpalast hin sollte, gähnt noch immer eine stillgelegte Baugrube, das berüchtigte "Loch".

Ja, die Logistik auf dem Lido ist armselig. Hier ist 30 Jahre lang quasi nichts passiert. Nun gehen wir schrittweise vor, mit der Renovierung und dem Ausbau der großen Säle, mit neuen kleineren Kinos, die Architekten sind an der Arbeit. Auch anstelle des "Lochs" soll ein Kino entstehen, der Palazzetto del Cinema.

Sie amtieren bis 2015. Ist bis dahin das "Loch" tatsächlich weg?

Dafür ist die Stadt Venedig zuständig. Die Finanzierung ist schwierig, aber ich bin optimistisch, dass das in den nächsten Jahren klappt.

Zur Filmauswahl: Gibt es ein Generalthema, das diesmal die Regisseure besonders beschäftigt?

Eindeutig die Krise unserer Gesellschaft, der Zusammenbruch eines Wertesystems. Das äußert sich vor allem in der Familie. In vielen Filmen geht es um Kinder, Jugendliche, die sich selbst überlassen sind. Wenn die Eltern als Vorbild, als Schlüssel zur Welt, fehlen oder versagen, werden die Kinder oft zu Opfern von Gewalt, von der Kindesmisshandlung über die Pädophilie zur Prostitution. Diese körperliche, sexuelle Gewalt ist eine Metapher dafür, wie extrem unsere Gesellschaft leidet.

Der Film "Die Frau des Polizisten" des deutschen Regisseurs Philip Gröning, den Sie für den Wettbewerb ausgewählt haben, erzählt eine solche Familiengeschichte. Gab es starke andere deutsche Konkurrenten?

Offen gestanden, nein. Philips Film haben wir schon im April ausgewählt. Es ist ein radikaler, ästhetisch innovativer, auch experimenteller Film. Die Erzählung explodiert in Fragmente, die der Zuschauer für sich zusammensetzen muss. Erst schreckte ich davor zurück, diesen Dreistundenfilm im Wettbewerb zu platzieren. Dann zeigte ich ihn meinem Auswahlkomitee, und alle waren fasziniert.

Auf welche Filme sind Sie sonst besonders stolz, vielleicht sogar, weil Sie sie anderen Festivals abgeluchst haben?

Wir klauen nicht (lacht). Manche Filme sind fertig für Cannes und gehen dorthin. Die Herbstfilme kommen zu uns oder nach Telluride, Toronto oder New York. Wir haben den Vorteil, dass wir die Saison eröffnen. Nur zwei Filme vermisse ich wirklich: "12 Years a Slave" von Steve McQueen läuft in Toronto und "Captain Phillips" mit Tom Hanks in New York. Ich habe beide eingeladen, aber die Produzenten haben anders entschieden.

Auch die Studios müssen sparen – ist das der Grund?

Heute ist alles von Marketingstrategen bestimmt. Einen großen Film nach Venedig zu bringen, ist teuer, wenn man einen ganzen Tross einfliegt.

Wieviel davon übernimmt das Festival?

Je drei Hotelübernachtungen für den Regisseur und zwei Hauptdarsteller, das ist alles. Alle anderen Kosten, von First-Class-Flügen bis zu Fünf-Sterne-Suiten für die Entourage, müssen die Filmfirmen selbst aufbringen. Da kommt bei 50 Leuten schon mal eine halbe Million Euro zusammen.

Welche Bedeutung hat der europäische Markt noch für die Amerikaner?

Der zählt viel weniger als früher. Vor zehn, 15 Jahren machte ein US-Film in Europa manchmal bis zu 70 Prozent seines Umsatzes. Das hat sich halbiert. Die strategisch interessanten Märkte für Hollywood sind heute China und Fernost, die haben sich enorm entwickelt.

Vielleicht klagen die italienischen Medien deshalb gern, es kämen zu wenig Stars nach Venedig.

Ein seltsames Lamento, zumal sich oft nachher zeigt, es waren gar nicht so wenige. Insgesamt aber investieren die Majors längst lieber in Blockbuster, nicht in festivaltaugliche Filme. Wir haben dieses Jahr Glück. Wir eröffnen mit Alfonso Cuaróns Science-Fiction-Film "Gravity" mit Sandra Bullock und George Clooney, und das Warner-Studio nutzt unsere Attraktivität und das Medienecho für den weltweiten Kinostart. Für uns ist die Premiere wichtig, weil "Gravity" zugleich ein Autorenfilm ist, keine Standardware.

Verteilen Sie doch mal, wie beim Sport, Medaillen für die drei Topfestivals.

Cannes steht unabweisbar oben, es ist das wichtigste und attraktivste der Welt. Wir sind die Nummer zwei, etwas kleiner, aber mit großer Geschichte und viel Prestige. Auch unsere Filmauswahl ist nicht schlechter als die in Cannes. Die Berlinale ist ein Metropolenfest, das ist ihr Trumpf. Im Kalender aber steckt sie auf halber Strecke zwischen Venedig und Cannes fest – und heutzutage gibt es leider nicht mehr so viele Filme, aus denen Festivals ein Programm von höchstem Niveau komponieren können. Doch als kulturelles Stimulans für ein breites Publikum hat die Berlinale eine wichtige Funktion.

Das haben Sie jetzt aber sehr diplomatisch ausgedrückt! Und Toronto, das Festival, das Ihnen terminlich dicht im Nacken sitzt?

Toronto ist extrem gewachsen und für die Filmindustrie inzwischen ein Pflichttermin. Ende der Neunziger hat man dort angefangen, Produzenten und Verleiher einzuladen und damit virtuos einen Mechanismus in Gang gesetzt, der zu immer mehr Weltpremieren führt. Andererseits: Wenn man 270 Filme zeigt, zählt die Quantität mehr als die Qualität.

Die Berlinale ist auch stolz auf ihr breites Programm.

Ja, das lässt sich vergleichen. Ich setze auf das Gegenteil, zumal es auf dem Lido kein Großstadtpublikum gibt. Zu uns reist man extra an, wegen guter Filme.

Das Gespräch führte Jan Schulz-Ojala. Das Interview erschien zuerst auf Zeit Online.

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