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Die Menschen protestieren gegen das Ibáñez-Regime mit einer Party. Zirkus und Karneval gehören zum Kino von Jodorowsky.

© Pascale Montandon-Jodorowsky

Kino: „Endless Poetry“ von Alejandro Jodorowsky: Die Wirklichkeit bittet zum Tanz

Psychomagier und Bilderstürmer Alejandro Jodorowsky mit seiner filmischen Autobiografie „Endless Poetry“.

Von Andreas Busche

Gut möglich, dass weiße Magie im Spiel ist, die den unermüdlichen Alejandro Jodorowsky mit 89 Jahren weiter Filme drehen lässt. Der Dichter, Theatermann, Surrealist und Filmemacher gehört zu den Ikonen der Gegenkultur: In seiner Heimat Chile verkehrte er Anfang der Fünfziger mit der jungen Beat-Poetin Stella Díaz Varín und dem „Anti-Neruda“ Nicanor Parra, in seinem Pariser Exil war er mit André Breton befreundet und ging bei Marcel Marceau in die Lehre, in Mexiko begann er sich für Tarot und Schamanismus zu interessieren. John Lennon und Andy Warhol waren erklärte Fans seines psychedelischen Westerns „El Topo“ von 1970, der damals zum Standardrepertoire studentischer Filmclubs und von Mitternachtskinos gehörte. Zuletzt widmete ihm Nicolas Winding Refn seinen Film "Only God Forgives".

Das Leben Alejandro Jodorowskys passt kaum zwischen zwei Buchdeckel, mit „The Dance of Reality: A Psychomagical Autobiography“ hat er es 2014 dennoch versucht. Die Memoiren erregten unter anderem Aufsehen durch einige widersprüchliche Aussagen über eine Vergewaltigungsszene in „El Topo“, die sich nur schwer mit dem libertären Geist der Hippie-Ära entschuldigen lassen. Aber das Wort zählte ohnehin nie zu Jodorowskys überzeugendsten Werkzeugen, er ist immer ein Ikonoklast geblieben. Hätte er vor 30 000 Jahren gelebt, wäre heute vermutlich eine Sammlung Höhlenmalereien von ihm überliefert. So aber entschied sich der Psychomagier und LSD-Schamane fürs Kino. Und zumindest die vergangenen 50 Jahre haben seine phantasmagorischen Bilderwelten unbeschadet überstanden, Kanye West bediente sich für seine „Yeezus“-Bühnenshow bei Jodorowskys zweitem bewusstseinserweiternden Meisterwerk „Der Heilige Berg“ (1973) .

Zwanzig Jahre war Jodorowsky in Paris abgetaucht

Die Geschichte Jodorowskys gehört einfach ins Kino. „Endless Poetry“ ist bereits der zweite Teil einer fünfteiligen filmischen Autobiografie – nach seinem etwas überraschenden Comeback „Dance of Reality“ von 2013. Über zwanzig Jahre war Jodorowsky in Paris mit seiner Familie abgetaucht. Dass er sich überhaupt noch einmal hinter eine Kamera stellen würde, hätten wohl nicht mal seine treuesten Fans für möglich gehalten.

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„Endless Poetry“ setzt exakt dort an, wo „Dance of Reality“ vor fünf Jahren endete. Der kleine Alejandro spaziert mit den Eltern, gespielt von Jodorowskys ältestem Sohn Brontis und der Opernsängerin Pamela Flores, über die Pier der kleinen Küstenstadt Tocopilla, seinem Geburtsort – durch eine Menschenmenge aus Pappaufstellern. Ein Abschied von der Kindheit. Symbolisch wird mit der Bootsfahrt aber auch die Trennung vom tyrannischen Vater und der so liebevollen wie schwachen Mutter vollzogen. Er ist zu Hause eigentlich ständig am Rumbrüllen, sie trägt ihren Schmerz in Arien vor. Alejandro will Künstler werden, gegen den Willen des Vaters. Sein schwuler Cousin Ricardo führt ihn in die Bohème Santiagos ein: Maler, Akrobaten und Freaks, die sich zur Zeit des Ibáñez-Regimes von der Gesellschaft zurückgezogen haben.

Exzess und Melancholie einer verlorenen Künstlerseele

Ein Außenseiter in Chile zu sein, bedeutete damals, sich in klandestinen Kreisen zu bewegen. Hier entdeckt „Alejandrito“ (Jodorowskys jüngster Sohn Adan), seinen Geschmack am Abseitigen und an der Entgrenzung. Sein Vorbild war Fellini, erzählt er später, und Kameramann Christopher Doyle, der schon den modernistischen Zauber der Kronkolonie Hongkong kurz vor der Rückgabe an China in den Filmen Wong Kar-Wais zum Leuchten brachte, beweist Sensibilität für den Exzess und die Melancholie der verlorenen Künstlerseele. Die irre Stella Díaz (ebenfalls Flores), mit roten Haaren und goldenen Brüsten, wird seine Nemesis. Sie stößt Alejandro über seine Grenzen hinaus, aber irgendwann wird es ihm zu viel: „Ich sehe nur noch dich, wenn ich in den Spiegel blicke.“

Der Regisseur selbst hat als Erzähler seiner Lebensgeschichte einige Auftritte. Er spricht zum Publikum oder ermuntert sein jüngeres Alter Ego, die Maske fallen zu lassen. „Du bist nicht schuldig, dein Leben zu führen. Du wärst schuldig, würdest du das Leben der Anderen führen.“

Während einer Nazi-Parade des zurückgekehrten Carlos Ibáñez – kleinwüchsige Männer in Hakenkreuzuniformen sind ein Fetisch Jodorowskys, in „Der Heilige Berg“ hüpfen kostümierte Kröten zu deutscher Marschmusik –, hat Alejandro eine Epiphanie. Er und seine Freaks bereiten dem Tyrannen einen berauschenden Totentanz, doch die Soldaten marschieren durch die Demonstration hindurch. Der Dichter ist im Chile der fünfziger Jahre unsichtbar, darum will Alejandro endgültig nach Paris – ein Cliffhanger. Man kann Jodorowsky also nur weiterhin eine robuste Gesundheit wünschen. Drei Teile seines Biopics stehen noch aus.

In den Kinos Brotfabrik, Wolf, Zukunft

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