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Schnüffeln lernen: Gunda und eins ihrer Ferkel.

© Filmwelt Verleih/Sant & Usant/Kossakovsky/Larsen

Kino: der großartige Tier-Essayfilm "Gunda": Wer sagt denn, dass ein Schwein nicht fühlt?

Die Welt und wie "Gunda" sie sieht: Victor Kossakovskys bewegender Dokumentarfilm erkundet das Seelenleben von Schweinen, Hühnern und Kühen.

Die niedlichen Ferkel, die fürsorgende Sau, das tapfere Huhn: Schon die Adjektiv sind Zuschreibungen. Wir Menschen erzählen die Welt aus menschlicher Sicht. Aber wie lässt sich die Welt aus der Sicht eines Schweins erzählen, eines Federviehs, einer Kuh, ohne dass wir uns die Tiere verwandeln?

Der russische Filmemacher Victor Kossakovsky hat es versucht. Er setzt die Kamera in den Stall oder direkt davor und lässt sie dort mit seinen Protagonisten allein. Mit Gunda, der Muttersau, deren Gesicht aus dem Bretterverschlag hervorlugt, kleine Augen, lange Schnauze samt Rüsselnase, während ihre Ferkel ins Freie torkeln – und wieder zurück zu den Zitzen der Mutter. Lustig sieht es aus, wie sie saugen, schubsen, beieinander liegen, und es ist doch ein Kampf.

Manche sind noch nass von der Geburt: Nicht alle dieser winzigen Kreaturen mit den hauchzarten Borsten werden es schaffen. Diskret fängt die Steadycam ein, wie Gunda ein allzu schwächliches, schleimiges Kind erst aus dem Stroh buddelt, um ihm dann mit der Hufe den Gnadenstoß zu erteilen.

„Gunda“, 2020 auf der Berlinale uraufgeführt, ist kein gewöhnlicher Bauernhof-Film, sondern eine Betrachtung aus Stallboden-Perspektive, sprich: auf Augenhöhe mit den Nutztieren. Kein Voiceover, keine Menschen, keine Musik, stattdessen eine tierische Symphonie: Grunzen, Gackern, Brummen, Quieken in Dolby Atmos, grundiert von der Heerschar der Insekten, dem Wind und fernen Straßengeräuschen.

Der Soundtrack begleitet das Heranwachsen der Ferkel, die ersten Ausflüge, das kühlende Bad im Schlamm. Oder die Nasenstüber der Mutter, die geduldig darauf beharrt, dass der Nachwuchs sich schnüffelnd und wühlend bald selber Nahrung verschafft. Ab und zu legt sie sich noch hin, um die Kleinen zu säugen. Ihr Euter ist prall gefüllt.

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Victor Kossakovsky, Jahrgang 1961, stammt aus St. Petersburg, lebt in Berlin und dreht eigentümliche poetische Dokumentarfilme, Produktionen wie „¡Vivan las Antipodas!“ oder „Aquarela“, in denen er Natur- und Umweltphänomene erkundet, ohne je zum Aktivisten zu werden. So ist auch der Schwarz-Weiß-Film „Gunda“ kein Tierschützerpamphlet, sondern eine Meditation, die der spröden Schönheit des Augenblicks huldigt, wenn etwa die Sonne Flecken aufs Borstenkleid zaubert. Oder wenn die Kamera (die von Kossakovsky und Egil Haskjold Larsen geführt wurde) die Hühner dabei beobachtet, wie sie aus ihrer Freilandhaltungs-Kiste steigen und vorsichtig durch Gras und Büsche staksen, als sei die Wiese ein fremder Planet. Es geht einem ans Herz, wenn das einbeinige Huhn beim Überqueren eines Baumstamms Anlauf nimmt, hüpft, flattert, fliegen möchte.

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Kossakovksy nennt „Gunda“ seinen bisher persönlichsten Film. Viele Jahre bemühte er sich vergeblich um die Finanzierung (jetzt fungiert Joaquim Phoenix als ausführender Produzent). Als Kind hatte er einige Zeit auf dem Land verbracht, und Vasya, sein bester Freund im Dorf, war zu Silvester als Schweineschnitzel auf den Tellern gelandet. Seitdem misstraut der Regisseur und Kameramann dem Töten der Menschen. Wir sollten uns nicht so wichtig nehmen, findet er. Und wenigstens wahrhaben, dass auch Tiere ein Bewusstsein haben, ein Gefühlsleben, anders als das unsrige, aber genauso kostbar. Eine Seele.

Das einbeinige Huhn hat es nicht leicht, einen Baumstamm zu überqueren.
Das einbeinige Huhn hat es nicht leicht, einen Baumstamm zu überqueren.

© Filmwelt Verleih/Sant & Usant/Kossakovsky/Larsen

Das klingt schnell kitschig, aber der auf Farmen in Norwegen, Spanien und England gedrehte Film ist es nicht. Schon das Schwarz-Weiß sorgt für eine gewisse Nüchternheit, auch das landwirtschaftliche Ambiente. Und Kossakovsky schaut derart gründlich hin, dass Sentimentalität gar nicht erst aufkommt. Zerzaustes Geflügel mit nacktgerupften Hälsen, ruckend, zuckend, es sind skurril-befremdliche Geschöpfe.

Oder die alten Kühe mit ihren verwachsenen Hörnern, wie sie sich paarweise auf der Weide gruppieren, um einander mit ihren Schwänzen die Fliegen vom Leib zu wedeln. Biologischer Reflex oder Empathie unter Vierbeinern? So oder so ein seltener Anblick: Kühe werden meist geschlachtet, bevor sie zu altern.

Tiere können nicht trauern? Gunda, die Muttersau, erlebt eine echte Tragödie

Manchmal nimmt Gundas Schweinekopf im Gegenlicht fast magische Züge an. Sie ist die Hauptfigur, übrigens eine Norwegerin. Bald fühlt man sich ihr nah, identifiziert sich mit ihr wie mit einer menschlichen Kinoheldin.Beim Casting war sie die erste, erzählt Kossakovsky in Interviews, die ihnen über den Weg lief. Er wusste sofort: "Wir haben unsere Meryl Streep gefunden."
Ein Traktor nähert sich ihrem Stall, ein Transporter wird rückwärts an den Eingang bugsiert – und Gunda widerfährt ein Drama vom Ausmaß einer griechischen Tragödie. Wer jetzt noch glaubt, Tiere könnten nicht trauern, nicht verzweifeln, der hat keine Augen im Kopf (wobei die Zuschauerin im Stillen hofft, dass die Szene der Realität "nur" nachgestellt ist und kein aktuelles Geschehen zeigt).
Im wirklichen Leben hat Gunda es besser, erzählt Kossakovsky außerdem. Sie darf auf dem Hof ihren Lebensabend genießen, muss keine Ferkel mehr großziehen und wird nicht geschlachtet. Einfach alt werden dürfen, auch in der Welt der Schweine ist das eine Seltenheit.
Ab Donnerstag in 9 Berliner Kinos

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