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Gina Lollobrigida und Yul Brynner in „Salomon und die Königin von Saba“.

© Courtesy of Park Circus/MGM

King Vidor-Retrospektive bei der Berlinale: Wenn Frauen schießen

Seine Heldinnen waren ihrer Zeit stets voraus: Die Retrospektive der Berlinale ist dem Meisterregisseur King Vidor gewidmet.

Der erste Auftritt, den die Hauptdarstellerin Jennifer Jones im Melodram „Ruby Gentry“ hat, ist atemberaubend. Sie steht in Jeans und eng anliegendem Pullover in einer Tür und wartet auf nächtlich eintreffende Gäste. Das Licht, das aus dem Haus auf sie fällt, betont die Silhouette ihres Körpers. Eine Frau wie ein Schattenriss, man muss ihr misstrauen. Die Küsse, die sie mit ihrem von Charlton Heston gespielten Geliebten wechselt, sind kaum von Bissen zu unterscheiden. Später erlegt sie einen Hirsch mit dem ersten Schuss aus ihrem Winchester-Gewehr.

Jeder Schuss ein Treffer

King Vidors Film aus dem Jahr 1952 ist in den Südstaaten angesiedelt. Eine Frau, die sich mit ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Kratzbürstigkeit nicht ins Rollenbild der adretten perlenkettchentragenden Southern Lady fügt, ist dort nicht vorgesehen. Die Männer begehren sie – und verachten sich dafür. Ruby ist auf der falschen, armen Seite der Stadt geboren. Im Country Club, wo die Honoratioren verkehren, ist sie nicht willkommen. Als ihr reicher Ehemann bei einem Segelunfall stirbt, wird sie von Anrufern als Mörderin beschimpft. „Sie haben mich wie Müll behandelt und nun möchte ich, dass sie vor mir auf die Knie fallen“, sagt sie und beginnt einen Rachefeldzug, nach dem nichts mehr sein wird wie zuvor.

Ruby Gentry ist eine typische Heldin der Filme von King Vidor, den die Berlinale mit einer Retrospektive ehrt: zu früh zu emanzipiert. Sie könnte die jüngere Schwester von Rosa Molina sein, die Bette Davis im Film noir „Beyond the Forest“ (1945) mit schwarz gefärbten Haaren verkörpert. Sie beklaut ihren Ehemann, verpasst dem Liebhaber Ohrfeigen und haut Sottisen heraus wie ein Schnellfeuergewehr. „Ich mag es, wenn die Menschen mich nicht mögen“, sagt sie. „Ich will nicht zu ihnen gehören.“

Verdammt zur Provinz

Dem Zug nach Chicago, der zweimal am Tag durch ihr verschlafenes Städtchen kommt, schaut sie sehnsüchtig hinterher. Wie Madame Bovary ist sie nicht fürs Provinzleben geschaffen, aber doch dazu verdammt. Wenn Rosa am Anfang aus purer Langeweile einen Waschbären erschießt, ist klar, dass sie am Ende mit demselben Gewehr einen Menschen töten wird. Die Frage ist nur: welchen?

King Vidor hat immer wieder Frauen ins Zentrum seiner Filme gestellt, die nicht ins Geschlechterbild ihrer Zeit passen. Sie handeln, während die Männer bloß reagieren. Rosa Molina mag ein Biest sein, aber ihre Bosheit funkelt so sehr, dass alle Figuren um sie herum blass bleiben. Ähnliches gilt für Ruby Gentry, deren Nonkonformismus ein Akt des Widerstands ist.

King Vidor hat rund 70 Filme hinterlassen, 35 davon zeigt die Retrospektive. Der Regisseur, der 1894 in Texas geboren wurde und 1982 in Kalifornien starb, setzte in allen Genres künstlerische wie technische Maßstäbe, von der Komödie („Show People“) über Western („Duell in der Sonne“) bis zur Literaturadaption („Krieg und Frieden“). Seine sechs Jahrzehnte umfassende Karriere reichte von der Stummfilm- bis zur Cinemascope-Ära.

Scharfer Blick auf Klassenunterschiede

Der Sohn einer ungarischen Einwandererfamilie hatte als Kameramann und Drehbuchautor gearbeitet und schon 1914 zusammen mit einem Freund eine eigene Produktionsfirma gegründet. Als Regisseur drehte er zunächst kurze Dokumentarfilme über Militärparaden oder Zuckerfabriken und Beiträge für die Wochenschau. Den scharfen Blick auf Klassenunterschiede und ein Gespür für soziale Verhältnisse hat er auch in seinen Spielfilmen behalten.

Wenn es in seiner zum Melodram kippenden Screwball-Komödie „The Wedding Night“ (1935) ein New Yorker Millionärspaar nach Connecticut verschlägt, ist en passant auch der harte Arbeitsalltag der Tabakbauern zu sehen. Einen irrwitzigeren Heiratsantrag als den, den Gary Cooper dort Anna Sten macht, gibt es wohl in der gesamten Kinogeschichte nicht.

Und selbst eine hölzerne Romanverfilmung wie „The Citadel“ (1938), die einem Grubenarzt ein Denkmal setzt, führt tief hinein ins Elend walisischer Bergarbeiter, deren Familien wegen katastrophaler hygienischer Umstände von der Tuberkulose hinweggerafft werden.

Immer in Bewegung

„Vidor bringt seine Figuren ebenso wie die Kamera in Bewegung“, schreibt Festivaldirektor Carlo Chatrian im Begleitbuch (Bertz+Fischer, 252 Seiten, 25 €). „Vielleicht ist das seine Art, den Staub aus den Kostümen zu schütteln und den Duft der Realität zu verbreiten, wenn das Set zu sehr nach Theater riecht.“

Der Regisseur hat Meisterwerke wie den Kriegsfilm „The Big Parade“ (1925), das Architektenporträt „The Fountainhead“ (1949) oder das Bibelepos „Salomon und die Königin von Saba“ (1959) geschaffen, galt aber lange als Handwerker . Er war ein Rebell, der sich an die Regeln des Studiosystems hielt. Fünfmal war King Vidor für einen Oscar nominiert, doch bekommen hat er die Auszeichnung erst 1979 für sein Lebenswerk. Sein sarkastischer Kommentar: „Durchhalten lohnt sich.“

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