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Michael Gruenbaum/Todd HasakLowy: Wir sind die Adler. Eine Kindheit in Theresienstadt. Übersetzt von Jan Möller. Rowohlt Rotfuchs, Reinbek 2018. 346 S., 9,99 €. Ab zehn Jahren

© Rowohlt Verlag

Kinderbuch: Der Hölle so nah

Als Kind in Theresienstadt: „Wir sind die Adler“ von Michael Gruenbaum

Am Tag, als im März 1939 die Wehrmacht in Prag einmarschiert, sieht Mischa seine ersten Toten. Unten auf der Straße rollen Panzer, gefolgt von Soldaten, oben klettern ein junger Mann und eine junge Frau auf die Balustrade eines Balkons im fünften Stock. „Die beiden halten Händchen. Sie stehen jetzt nur noch mit den Hacken auf dem Balkonsims. Was machen sie denn bloß? Warum kommen sie nicht runter? Sie springen.“ Mischa, neun Jahre alter Sohn einer jüdischen Familie, sieht die toten Körper in Form eines schiefen V auf dem Pflaster liegen, anderthalb Meter von den Soldaten entfernt. Der Tod des Pärchens wird für ihn zum bösen Omen.

Mischa erlebt die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung, er muss seine Geige abgeben, mit seiner Familie die alte Wohnung verlassen und ins Ghetto ziehen. Er sammelt Zigarettenstummel, verkauft selbst geflochtene Gürtel, wird von Jugendlichen verhöhnt, verprügelt und an einen Baum gefesselt. Den Vater, einen Juristen, holt die SS ab. Er kehrt nicht mehr zurück. Im November 1942 kommt per Post ein „Einberufungsbescheid“, der kleine Michael, seine Schwester Marietta und die Mutter werden nach Theresienstadt deportiert, wie die Deutschen Terezín nennen.

Dort, so verspricht ein SS-Offizier, könnten sie „ein neues Leben“ beginnen, „frei von Verfolgung“. Das ist eine Lüge, sie entstammt der nationalsozialistischen Propaganda. Theresienstadt ist kein Vernichtungslager, es wird Delegationen des Roten Kreuzes als angebliche „jüdische Mustersiedlung“ vorgeführt. Michael landet im Gebäude L 471, einem Kinderheim für Jungen. „Überall sind Jungs. Alle etwa in meinem Alter. Sie liegen auf den Betten, sitzen auf den Betten, stehen neben den Betten. Reden, zeichnen, schreiben, lesen Bücher, spielen Karten, stellen ein Schachbrett auf.“

Gestohlene Kindheit

Die Jungen nennen sich „Nesarim“, hebräisch für „Adler“, sie spielen viel Fußball, treten in der Kinderoper „Brundibár“ auf, ihr „Madrich“, ein Mentor und Beschützer, heißt Franta. Man könnte den Alltag im Konzentrationslager für ein Idyll halten, wenn nicht irgendwann die Sammeltransporte in den Osten beginnen würden, zu einem Ort namens Birkenau. Die Rettung von Michael, Marietta und der Mutter gleicht einem Wunder. Ein SS-Mann streicht ihre Namen von der Deportationsliste, im Tausch gegen einen Teddybären, den die Mutter in der Spielzeugwerkstatt hergestellt hatte.

Michael Gruenbaum ist 1950 aus der Tschechoslowakei in die USA ausgewandert. Die Idee, dieses Buch über seine gestohlene Kindheit zu schreiben, hatte er, nachdem er ein Erinnerungsalbum seiner Mutter dem United States Holocaust Memorial Museum stiftete. Der Holocaust, sagt er, dürfe niemals vergessen werden. „Aber bevor man geloben kann, etwas in Erinnerung zu behalten, muss man es erst einmal kennen.“

Michael Gruenbaum/Todd Hasak-Lowy: Wir sind die Adler. Eine Kindheit in Theresienstadt. Übersetzt von Jan Möller. Rowohlt Rotfuchs, Reinbek 2018. 346 S., 9,99 €. Ab zehn Jahren

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