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Die Journalistin und Autorin Khuê Pham kam 1982 in West-Berlin zur Welt.

© Alena Schnick/btb

Khuê Phạms Debütroman „Wo immer ihr seid“: Raus aus Saigon

In ihrem beeindruckenden Familienroman „Wo immer ihr seid“ öffnet die Berliner Autorin Khuê Phạm eine bereichernde Perspektive auf die Zeit des Vietnamkrieges.

Als sich die US-Armee im Sommer aus Afghanistan zurückzog, rief das bei vielen die Erinnerung an den amerikanischen Abzug aus Vietnam im Jahr 1975 wach. Das Chaos von Kabul schien dem Chaos von Saigon zu ähneln.

Wieder hervorgeholt wurde das damals häufig gedruckte Foto eines Hubschraubers, der auf dem Dach eines Hochhauses gelandet war, um Menschen zu evakuieren, die über eine Leiter zu ihren Rettern kraxelten.

Khuê Phạm befragte ihre Familienmitglieder

An das vom Pressefotografen Hubert van Es in der Nähe der US-Botschaft aufgenommene Foto werden sicher auch einige Leser*innen von Khuê Phạms Debütroman „Wo auch immer ihr seid“ denken, wenn sie zu einer dramatischen Szene in der Mitte des Buches gelangen.

Sie wirkt wie eine Fortschreibung des Fotos und spielt 1975 an der US-Botschaft von Saigon, wohin sich tausende Menschen geflüchtet haben. Unter ihnen befindet sich der 15-jährige Son mit seinen Eltern und drei seiner Geschwister.

Der Vater ist Oberst der gerade besiegten südvietnamesischen Armee, er hat Angst um das Leben der Familie. Doch nur Son schafft es auf das Gelände der Botschaft, wo ein Hubschrauber auf dem Dach eines Gebäudes landet.

Der Junge klettert über eine Feuertreppe bis fast ganz nach oben, aber eine blockierte Tür versperrt ihm den Weg zur Rettung. „Er hämmerte und rief, doch niemand hörte ihn. Über ihm machten sich die Menschen auf den Weg in die Freiheit, doch er war weggeschlossen, ein Tier. Er jaulte, als der Hubschrauber wieder abhob und davonratterte.“

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Son wird die Flucht nach Amerika einige Jahre später doch noch gelingen. Es ist eine verschlungene, verrückte Geschichte, die der Onkel von Khuê Phạm tatsächlich erlebt hat. Die 1982 in Berlin geborene Autorin, die seit 2009 Redakteurin der „Zeit“ ist, orientiert sich in ihrem Roman teils eng an den Schicksalen ihrer eigenen Familie. Sie wusste zunächst wenig darüber, also recherchierte sie und befragte ihre Verwandten.

Ihr Buch ist deshalb reich an historischen Details und öffnet eine erhellende Perspektive auf die Vietnamkriegszeit, deren fiktionale Rezeption ja auch hierzulande von amerikanischen Filmen dominiert wird. Der Übermacht dieser Bilder etwas entgegengesetzt haben zuletzt vietnamesisch-amerikanische Autoren wie Viet Thanh Nguyen und Ocean Vuong, deren Bücher auch ins Deutsche übersetzten wurden. Khuê Phạm fügt dem einen wertvollen Stein hinzu.

[Khuê Phạm: Wo auch immer ihr seid. btb Verlag, München 2021. 304 Seiten, 22 €.]

„Wo auch immer ihr seid“ beginnt im Berlin der Gegenwart. Die 30-jährige Journalistin Kiều, hier geboren als Kind vietnamesischer Eltern, erhält über Facebook eine Nachricht von einem gewissen „Son Saigon“, der behauptet, es gebe da etwas, dass sie und ihr Vater wissen müssen. Kiều reimt sich zusammen, dass die Botschaft vom Bruder ihres Vaters stammt, der in Kalifornien lebt. Sie antwortet nicht. Nur einmal vor 15 Jahren hat sie ihn getroffen – was soll jetzt schon so wichtig sein?

Zweieinhalb Wochen später macht Son einen neuen Versuch. Es ist Weihnachten. Kiều und ihre beiden jüngeren Geschwister sind ins Haus der Eltern gekommen, die „dieses Fest gelernt haben, so wie sie die deutsche Grammatik gelernt haben – als etwas, das man vollführt, um Teil von diesem Land zu sein.“ Auch Kiều, die sich Kim nennt, war als Kind in diese Bemühungen einbezogen und musste etwa Klavierstunden nehmen.

Oft geriet sie deshalb mit der Mutter in Streit und wünschte sich, „in einer Familie aufzuwachsen, die nicht erst deutsch werden musste, sondern es einfach schon war.“ Während die Familie nun am festlich eingedeckten Esstisch sitzt, klingelt das Festnetztelefon. Kiều nimmt ab. Es ist Onkel Son, der ihr sagt, dass ihre Großmutter im Sterben liegt.

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Bald darauf ist sie tot und Kiềus Vater Minh, der seit Jahren kaum Kontakt zu seiner in den USA lebenden Familie hatte, bittet sie, ihn zur Beerdigung zu begleiten. Von dieser Reise erzählt Khuê Pham im Wechsel mit Kapiteln, die sowohl Minhs als auch Sons Lebensgeschichte nachzeichnen.

Zunächst folgt sie dem an ihren eigenen Vater angelehnten Minh, dessen Mutter nach der nordvietnamesichen Tet-Offensive zu Beginn des Jahres 1968 beschließt, ihren ältesten Sohn zum Studieren ins Ausland zu schicken. So landet Minh erst in Bayern und dann als Medizinstudent in West-Berlin – mitten in der Studentenbewegung, deren Parteinahme für den Vietcong ihm vollkommen suspekt ist.

Auch sonst hat er zu kämpfen – mit der Sprache, der Kälte, dem Essen. Khuê Pham vermittelt diese Fremdheitserfahrung auf sehr einfühlsame und anschauliche Weise, zum Beispiel wenn sie beschreibt, wie nervös Minh beim Besuch eines Supermarktes ist. Inständig hofft er, nicht angesprochen zu werden und versucht, an der Kasse möglichst schnell zu sein – und lässt prompt seine Münzen auf die Erde fallen.

Minh ändert in West-Berlin seine politische Meinung

Nach und nach kommt er besser klar und beginnt sich politisch neu zu positionieren. Die Nachrichten vom Blutbad, das die US-Armee im südvietnamesischen Dorf Mỹ Lai angerichtet hat, spielt dabei eine zentrale Rolle. Minh engagiert sich jetzt gegen den Krieg, organisiert mit seiner ebenfalls aus Vietnam stammenden Geliebten sogar eine Demonstration.

Seinen jüngeren Bruder Son würde es sicher mit Horror erfüllen zu wissen, dass Minh „Ho-Ho-Ho-Chi- Minh“ rufend durch West-Berlin läuft. Für ihn bleiben die Kommunisten auch nach ihrem Sieg der Feind. Nachvollziehbar angesichts des Verschwindens seines Vaters im Umerziehungslager, ständiger Lebensmittelknappheit und Bücherverbrennungen.

Nichts davon weißt Kiều/Kim, als sie ihre Verwandtschaft in Kalifornien trifft. Sie nervt der Gruppenzwang, ständig stößt sie an die Grenzen ihrer Vietnamesischkenntnisse und ist überdies beschäftigt mit ihren Beziehungssorgen. Wie sich Kims Sicht auf ihre Herkunft dann allmählich verschiebt, wie sie bemerkt, dass sie sich in ihrer Dauerabwehr auch ein Stück weit selbst verleugnet, gehört zu den berührendsten Aspekten dieses starken Debütromans, der nicht zuletzt einen Eindruck davon gibt, was es heißt, zu den „neuen Deutschen“ zu gehören. So lautete 2012 der Titel des Buches, in dem Khuê Phạm zusammen mit ihren Kolleginnen Alice Bota und Özlem Topçu die Lebensrealität von Menschen mit Migrationsgeschichte beschrieben hat.

Deren Stimmen sind seither auch in der Literatur deutlich vernehmbarer geworden. Ausgehend von eigenen Geschichten haben sie sich dort eingeschrieben und fortgeschrieben. Das ist ein großes Leseglück – und so wünscht man sich bei dem tollen offenen Ende von „Wo auch immer ihr seid“ sofort einen zweiten Teil.

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