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Bloß nicht unterkriegen lassen. Daniel (Dave Johns) und Katie (Hayley Squires) beim Behördengang.

©  Prokino

Ken Loach und "Ich, Daniel Blake": Wir da unten

Ken Loachs Film „Ich, Daniel Blake“ feiert den Widerstand eines Arbeitslosen. Jetzt kommt der Gewinner der Goldenen Palme in die deutschen Kinos.

Schwarze Leinwand, die Namen der Mitwirkenden erscheinen, sonst nichts, dazu zwei Stimmen aus dem Off. Die eine stellt Fragen, in betont sachlichem Tonfall: „Können Sie die Arme heben, als ob Sie einen Hut aufsetzen wollten?“, „Können Sie auf Tasten drücken, als wollten Sie telefonieren?“, „Können Sie 50 Meter laufen ohne die Hilfe eines anderen?“

Der Antwortende weiß nicht recht, ob er hier einem Spaß höherer Ordnung beiwohnt, er stellt Gegenfragen, zunehmend amüsiert, zunehmend erbittert. Um Himmels willen, er habe einen Herzinfarkt gehabt, keinen Hirnschlag ... Die Fragende unterbricht, er möge mit ja und nein antworten, sonst nichts. Und Erkundigungen hole hier prinzipiell nur sie ein. Aber wer ist sie denn, so mit ihm zu reden, wie kein freier Bürger eines freien Landes mit einem anderen freien Bürger eines freien Landes reden darf? Nein, ganz so formuliert es der rekonvaleszente Tischler Daniel Blake aus Newcastle nicht, aber genau so meint er es.

Das ist der Beginn des Films, der im vergangenen Mai in Cannes die Goldene Palme gewann. Und Ken Loach, der letzte Nachfahre von Ettore Scola und Roberto Rosselini, ist sein Regisseur. Britischer Neorealismus also. Oder wie Loachs Kameramann es sagt: der Ken-Stil. Der Ken-Stil ist ein Intensitätsphänomen bei größter Sparsamkeit der Mittel. Mit „Ich, Daniel Blake“ hat der nun Achtzigjährige es wieder geschafft, 50 Jahre nach „Cathy Come Home“.

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Und einen Verdacht hat der Filmemacher auch: Daniel Blake hätte für den Brexit gestimmt! Fügen wir noch einen Verdacht an: Daniel Blake hätte wohl auch Trump gewählt. Vielleicht nicht aus Sympathie. Aber besitzt dieser Mann im Unterschied zu den modernen Wirklichkeiten nicht noch etwas Fassliches, etwas Greifbares? Würde Trump solche Gesundheitsdienstleister-Interviews gutheißen? He is a buddy, sagen die Angelsachsen. Hilary Clinton ist gewiss keiner.

Alles, was kommt, ist in der Eröffnungsszene bereits enthalten. Eine Filmkritik darf immerhin noch mehr Worte machen als nur „ja“ oder „nein“ zu sagen, also ist dies, aus gegebenem Anlass, eine undisziplinierte Filmkritik mit Ausflugscharakter ins Grundsätzliche. Jürgen Habermas wollte einst mit seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ die Utopie einer gerechten Gesellschaft unter den Bedingungen moderner Industriegesellschaften neu begründen: Durch Sprechakt-Disziplin und die Teilhabe aller nähern wir uns unaufhörlich dem Ideal einer herrschaftsfreien Kommunikation.

Filmdebüt des Comedian Dave Johns

Mit den typischen „Sprechaktsituationen“ in modernen Sozialämtern ist dieser Entwurf allerdings definitiv widerlegt. Und „Ich, Daniel Blake“ ist eigentlich nichts als ein Sprechaktfilm. Natürlich entgleist das Gespräch zwischen Blake und seiner Gesundheitsdienstleisterin. Amüsiert und zornig zu sein, ist keine angemessene Gemütsverfassung für einen Hilfebedürftigen. Über sein Ausscheidungsverhalten befragt, antwortet Blake, mit seinem Arsch sei alles in Ordnung – im Unterschied zu seinem Herzen. Aber wenn das hier so weitergehe, könne er für nichts mehr garantieren.

Nicht gut. Gar nicht gut. Und der Tischler mit dem ramponierten Herzen bekommt einen Bescheid, der sein tiefstes Erstaunen hervorruft: Er ist als arbeitsfähig eingestuft. Er versucht anzurufen, er landet in einer Telefonwarteschleife, die die Verzweifelten mit festlicher Musik von Georg Friedrich Händel empfängt. Barock, das ist Weltordnung, auch in Tönen. Gegenwart, das ist Weltunordnung. Händel ist Hohn auf alle, die sich in diesen Warteschleifen aufhalten. Und leben sie denn überhaupt noch woanders? Leben sie denn überhaupt?

Nein, das Wort verfehlt die verwaltete Existenzweise, in die der Tischler Daniel Blake, weißer Mann ohne höheren Bildungsabschluss, nun gerät. Es ist das Kinodebüt des britischen Stand-up-Comedian, Theaterschauspielers und Autors Dave Johns. Er gibt der Figur jene Kraft, jene Bodenständigkeit, die so schnell nichts aus der Fassung bringt. Nichts außer den Mühlen der Bürokratie.

Kein aufklärerisches Agitpropkino

Kafkas Bankprokurist Josef K. war besser vorbereitet auf eine kafkaeske Wirklichkeit als ein Zimmermann, der den Anschluss an das Internetzeitalter verpasst hat. Leider muss er alle wichtigen Formulare, die darüber entscheiden, ob die Solidargemeinschaft ihn am Leben hält oder eher nicht, aus dem Netz herunterladen. Und wenn möglich online ausfüllen. Auch Online-Bewerbungen wären sehr sinnvoll. Dass Gott tot ist, ist ein Kinderglaube, natürlich existiert er, und er ist so unsichtbar und allmächtig, wie er es immer war. Er heißt jetzt der „Decisionmaker“. Das Prädikat „allgütig“ gebührt ihm wohl nicht, aber schon sein Vorläufer besaß es nicht ganz zu Recht, die Geschichte ist Zeuge.

„Ich, Daniel Blake“ ist dennoch kein aufklärerisches Agitpropkino, Kafka ist ja auch kein Agitprop. Da ist bald eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern an Blakes Seite. Sie war zu ihrem Termin auf dem Sozialamt zu spät erschienen, es war ihr erster Tag in der neuen Stadt, aber der Sozialdienstleister will nichts hören, hier wird Kommunikation optimiert. So stehen sie plötzlich zu viert auf der Straße, denn es ist nicht nur unstatthaft, mehr als „ja“ und „nein“ zu sagen, es ist auch ganz besonders unstatthaft, sich zum Fürsprecher eines anderen zu machen. Die Seelenfäden, die Loach und sein Drehbuchautor Paul Laverty um Daniel Blake und die junge Katie (Hayley Squires) mit ihren Kindern weben, gehören zu den zartesten, zerreißbarsten und doch festesten ihrer Art.

Jeder Kunde ist der natürliche Souverän seiner Zeit

Mit der Losung „Fördern und fordern“ sind auch in Deutschland die neuen „Sozialdienstleister“ angetreten. Aber sie schaffen Sklaven, so ironisch ist es zu denken. Denn man muss schon ein Sklave sein, um in diesem Kommunikationsmodell mit seinen ständigen Sanktionsdrohungen nirgends anzustoßen.

Ende April 2014 schrieb der Berliner Michael Fielsch, Hartz-IV-Empfänger, wohnhaft in Wedding, einen Brief. Er begann: „Sehr geehrte Frau R.! Vielen Dank für Ihre Einladung zum 8. Mai 2014 und das wohlwollende Interesse an meiner Person. Zu meinem Leidwesen muss ich den Termin aber absagen. Ich hätte am 2. Mai 2014 von 10 Uhr bis 13 Uhr Zeit für ein persönliches Gespräch mit Ihnen“. Empfängerin war die für den Absender zuständige Sachbearbeiterin im Jobcenter Berlin-Wedding.

Vielleicht war es der ungewöhnlichste, der riskanteste Brief des Jahres, dabei der erste, der das Jobcenter ganz ernst nahm. Denn es spricht Menschen wie Michael Fielsch grundsätzlich als seine „Kunden“ an, die man gern „bedienen“ wolle. Höflichkeit ist zivilisatorische Kompetenz: Nein, antwortete der Hartz-IV-Empfänger, im Augenblick wolle er eher nicht bedient werden. Denn jeder Kunde ist der natürliche Souverän seiner Zeit. Und auch der seiner Absichten.

Vielleicht gibt es zwei Arten von Menschen. Solche, denen dieses Betragen eines Leistungsbeziehers im höchsten Maße unangemessen scheint. Und solche, denen die formbewusste Selbstbehauptung eines Menschen Freude macht, der sich eben dies am allerwenigsten leisten kann. Haben Sozialleistungsempfänger ein Recht auf Exzentrik? Wir haben es, wissen Daniel Blake und Michael Fielsch. Und noch dürfen sie sogar wählen gehen.

In Berlin ab Donnerstag in den Kinos, Blauer Stern Pankow, Cinemaxx, Delphi, FaF, Kulturbrauerei, Passage und Yorck; OmU im Eiszeit, fsk, Hackesche Höfe, Kulturbrauerei und Neues Off

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