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Viel Arbeit für die kleinen grauen Zellen: Katharina Thalbach als Hercule Poirot - im Bühnenbild von Momme Röhrbein.

© Franziska Strauss

Katharina Thalbach inszeniert Agatha Christie: Täter der Klamotte

Katharina Thalbach bringt den „Mord im Orientexpress“ auf die Bühne des Schiller Theaters – und spielt selbst Hercule Poirot.

Dann wollen wir mal versuchen, den Tathergang zu rekonstruieren. Katharina T., eine sehr erfolgreiche Schauspielerin, verfällt auf die Idee, den Meisterdetektiv Hercule Poirot auf einer Theaterbühne darstellen zu wollen. Hosenrollen hat sie in ihrer glanzvollen Karriere schon mehrfach übernommen, von der Statur her entspricht sie ideal Agatha Christies weltbekanntem Belgier. Als Zielobjekt wählt sie den „Mord im Orientexpress“, der Ort des Verbrechens soll das Berliner Schiller Theater sein.

T. sucht Komplizen für ihren Coup, findet sie zum einen in der eigenen Familie – Tochter Anna wird Mary Debenham verkörpern (Vanessa Redgraves Rolle in der legendären 1974er Verfilmung des Krimis), Enkelin Nellie die vermeintlich ungarische Gräfin Andrenyi – wie auch in ihrem künstlerischen Freundeskreis.

Mat Schuh mimt das Mordopfer, Wenka von Mikulicz die Klischee-Deutsche Hildegard Schmidt, Max Gertsch den Schaffner Michel, Alexander Dydyna den Hector MacQueen. Und auch die Geschwister Pfister sind dabei. Weil die vor allem als Sänger:innen beim Publikum beliebt sind, entsteht die Idee, die Bühnenfassung des Romans von Ken Ludwig durch Songs für das Trio zu ergänzen. Christoph Israel kann dafür als Komponist gewonnen werden.

Schlager und Bauchtanz

Und so hebt sich der Vorhang bei der pandemiebedingt vier Mal verschobenen Premiere am Samstag dann zur allgemeinen Überraschung für eine veritable Musicalszene: Das doppelstöckige Bühnenbild von Momme Röhrbein zeigt eine mondäne Hotelhalle, Scherenschnitt-Palmen deuten an, dass wir uns in Istanbul befinden.

Auf der Galerie führt eine Bauchtänzerin ihre Körperkunst vor, Tanzpaare bevölkern den Saal, der Designer Guido Maria Kretschmer hat ihnen edle Garderobe nach der Mode der frühen 1930er Jahre schneidern lassen, Tobias Bonn, alias Toni Pfister, hier Monsieur Bouc, Chef der Schlafwagengesellschaft, singt eine Schlagermelodie im braungemusterten Zweireiher.

Der erste Gedanke: Wie soll Martin Woellfer, der Impresario der Komödie am Kudamm, der hier als Produzent fungiert, die Kosten jemals wieder einspielen? Die Anzahl der Personen ist im Vergleich mit dem Original in der Bühnenfassung zwar von 17 auf 12 reduziert, aber hier im Schiller Theater gilt es nun auch noch, ein achtköpfiges Tanzensemble zu bezahlen und vier Statisten.

Massiver Mummenschanz für einen Klassiker

Der technische Aufwand ist enorm, in der zweiten Szene fährt der Zug tatsächlich komplett aus dem Bahnhof heraus, später können das Innere der 1.Klasse-Abteile sowie der Salonwagen gleichzeitig auf den beiden Ebenen bespielt werden. Die Lichtregie ist ausgefeilt, viel Bühnennebel symbolisiert den Dampf der Lok, diverse Mal fahren Leinwände herunter, auf denen Filmszenen gezeigt werden.

Ein massiver Mummenschanz wird da in Agatha Christies Namen entfesselt – was wiederum den zweiten Gedanken auslöst: Ist das wirklich nötig? Resultiert die Faszination des „Mord im Orientexpress“ nicht gerade aus der Kammerspiel-Situation der Handlung? Nicht umsonst lässt die Autorin den Orientexpress kurz hinter Sofia in einer Schneewehe steckenbleiben, so dass niemand unbemerkt entkommen kann. Hercule Poirot ist mit seinen Verdächtigen auf engstem Raum gefangen, was ihm jenen Kreuzverhör-Marathon ermöglicht, bei dem er die Indizien sammelt, die letztlich zur überraschenden Lösung führen.

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Katharina Thalbach aber verfährt als Regisseurin genau umgekehrt: Sie macht aus dem intimen Stück eine große Revue, mit Tanzszenen, pantomimischen Intermezzi und Showstopper-Gesangsdarbietungen. Weil sie aber gleichzeitig auf kein einziges Detail der Story verzichten mag – obwohl die Handlung als bekannt vorausgesetzt werden kann – streckt sie den Abend so sehr, dass sie am Ende sogar satte 30 Minuten länger braucht als Sidney Lumet in seiner mehr als zweistündigen Verfilmung.

Die Hauptdarstellerin nimmt sich sehr ernst

Unklar bleibt bis zum Schluss auch, wo sie interpretatorisch hin will. Soll der Abend ein nachgespielter Roman sein, eine Boulevardkomödie, ein verkapptes Musical oder vielleicht doch eine Krimi-Klamotte? Manche Figuren sind arg überzeichnet, Raphael Dwinger muss als Colonel Arbuthnot ständig drohend den Zeigefinger in die Höhe recken, Nadine Schori als schwedische Kinderkrankenschwester Greta Ohlsson nervtötend kreischen. Plakativ sind Andreja Schneiders Prinzessin Dragomiroff mit ihrer karikaturesken Frisur und dem kalkweißen Gesicht sowie Tobias Bonns verklemmt-hüftsteifer Monsieur Bouc gezeichnet.

( Die Vorstellungen im Juli/August sind ausverkauft, Tickets gibt es aber bereits für die Wiederaufnahme im März 2022.)

Ihre eigene Figur wiederum nimmt Katharina Thalbach sehr ernst, hat sich eingefuchst in die gestischen und sprachlichen Marotten des eitlen Detektivs, murmelt ständig „oh, là, là, là, là“, serviert mit knarrender Stimme und französischem Akzent absichtsvoll verdrehte Redewendungen, für die sie dann auch einige der wenigen Lacher des Abends einheimst. Zu guter Letzt, wenn die Entscheidung gefallen ist, den wahren Mordhergang zu vertuschen, erklingt ein Bach-Choral und Hercule Poirot holt zum großen moralischen Monolog aus.

In welche Richtung die Inszenierung auch hätte gehen können, nämlich ins liebevoll Selbstironische, zeigt Christoph Marti. Virtuos spielt er die schrille Amerikanerin Helen Hubbard: Jede gezierte Geste sitzt, jede Bewegung erzählt von der Lüsternheit der Lady aus dem mittleren Westen, jeder Augenaufschlag ist ein schamloser Flirt mit dem Publikum. Er schwelgt im Mondän-Nostalgischen, das ihm die Rolle gestattet, und beobachtet zugleich distanziert sein kunstvoll-künstliches Tun. Was ihm denselben Genuss verschafft wie jenen, die ihm dabei zusehen dürfen.

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