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Detail des Karlsschreins im Aachener Dom aus dem 13. Jahrhundert. Karl hält die Kirche in der rechten Hand.

© ullstein bild

Karl der Große: Der erste Europäer

Vor 1200 Jahren starb Karl der Große. Unter seiner Herrschaft erlebte das logische, überprüfbaren Regeln unterworfene Denken eine Renaissance. Was er aus den Ruinen des römischen Reiches rettete, wirkt bis heute fort.

Von Andreas Austilat

Zumindest der Tag ist sicher: Morgens am 28. Januar 814, einem Samstag, starb Karl der Große. Sieben Tage lag er darnieder, am Ende litt er wohl an Rippenfellentzündung und verweigerte jegliche Speise. Wo genau sein letztes Lager stand, lässt sich 40 Generationen später nicht mehr so genau sagen. Es war in Aachen, doch keine Spur hat sich von den Wohngebäuden des Herrschers erhalten. An Stelle der Königshalle steht Aachens gotisches Rathaus inzwischen auch schon fast 700 Jahre. Übrig ist der Granusturm und das Oktogon im Aachener Dom, zu Karls Zeiten der größte Kuppelbau nördlich der Alpen. Noch am Tag seines Todes wurde Karl hier beigesetzt.

1200 Jahre später, am gestrigen 25. Januar, wieder ein Samstag, war der Dom Schauplatz einer Pontifikalvesper, die das Karlsjahr eröffnet. Heute, am Sonntag, feiert das Volk, serviert wird unter anderem eine „Karlswurst“ nach mittelalterlichem Rezept. Und das ist noch lange nicht der Höhepunkt. Den werden drei Ausstellungen unter dem Titel „Macht, Kunst, Schätze“ bieten, die im Juni beginnen.

Nicht nur Aachen feiert. In Lüttich ist der 1200. Jahrestag von Karls Tod ebenfalls Anlass zum Gedenken, Belgien gehörte zum fränkischen Kernland. Aber Karl war auch Schweizer, im Zürcher Landesmuseum endet am 2. Februar die Karl-Ausstellung. Und während man in Deutschland Karl lange als ersten deutschen Kaiser ansah, war für die Franzosen klar: Charlemagne war ihr erster Kaiser.

Aachen? Kann für sich das Zeugnis von Zeitgenossen bemühen. Alkuin, Karls angelsächsischer Hofintellektueller, lobte die Stadt, damals kaum mehr als ein Ort, als neues Athen. Hofchronist Einhard feierte es als „zweites Rom“. Von so viel Ruhm blieb der Aachener Karlspreis, seit 1950 wird er für Verdienste um die europäische Einigung verliehen. Schließlich priesen die Dichter seinerzeit den Karolinger bereits als „Vater Europas“. Ohne freilich eine genaue Vorstellung von Europa zu haben, wie der Historiker Michael Borgolte sagt.

In die Figur Karls wurde bereits zu Lebzeiten viel hineininterpretiert. Einhard beschrieb ihn als sieben Fuß groß, aber er verfasste seine Vita Karoli Magni zum Lobe des Herrschers. Da muss mit Schmeicheleien gerechnet werden. Immerhin, die Gebeine, die im Karlsschrein lagern, verweisen auf einen Mann über 1,80 Meter – wenn sie echt sind. Der erste Kaiser, der nicht aus dem römischen Reich kam, wurde erst 400 Jahre nach seinem Tod in den damals neu geschaffenen Schrein umgebettet.

Die Karolinger hatten als hohe Hofbeamte ihre Vorgänger, die Merowinger, entmachtet

Mit den vielleicht wildesten Spekulationen über Karls Zeit schaffte es der Germanist Heribert Illig vor knapp 20 Jahren in die Feuilletons. Illigs These von der Phantomzeit gipfelte darin, dass es etwa 300 Jahre zwischen 614 und 911 gar nicht gegeben hätte, ein erfundenes Mittelalter, basierend auf Fälschungen. Illigs mehr als gewagte These ist überwunden, ein paar Anhänger gibt es immer noch.

An Versuchen, die Fakten zu rekonstruieren, fehlte es nie. Erst recht nicht heute, da aus Anlass des Gedenkjahres mehrere neue Titel erschienen sind. Anders als der Todestag ist das Geburtsdatum nicht so gut belegt, wahrscheinlich war es der 2. April 748. Es gab Gründe, sich das Datum nicht so genau zu merken. Wer wollte angesichts der damaligen Säuglingssterblichkeit schon darauf setzen, dass aus dem Knaben etwas würde? Überdies war 748 kein Jahr, in dem man viel auf Akten gab. Das sollte sich ändern.

Karls Vater Pippin war der erste König aus dem Geschlecht der Karolinger, die als hohe Hofbeamte ihre Vorgänger entmachteten, die Merowinger. Die hatten zu den Erben des kollabierenden römischen Reiches gehört, herrschten über Nordfrankreich und Belgien, richteten sich wie andere germanische Völker ein in römischen Ruinen. Die Straßen des untergegangenen Imperiums verfielen, seine Städte schrumpften, einschließlich Rom selbst. Die Pax Romana mit einheitlichem Wirtschaftsraum, Währung und Maßen – es gab sie nicht mehr. Die römischen Bibliotheken? Aufgelöst, ihre Bücher konnte kaum mehr jemand lesen.

Die Merowinger haben nicht viel Schriftliches hinterlassen, ihre Geschichten werden nicht mehr erzählt – außer vielleicht von Dan Brown, der in seinem Roman „Sakrileg“ behauptet, die Merowinger stammten von Jesus und Magdalena ab. Eine Legende, basierend auf einer Fälschung aus dem 20. Jahrhundert.

Es war kein sehr beeindruckendes Erbe, um das Karl 768 auch noch mit seinem Bruder stritt, bis er allein König war. Rücksichtslos machte er etwas daraus. Konkurrenten wurden geblendet, verstümmelt, verschwanden hinter Klostermauern. Chronist Einhard zählt acht Kriege in 30 Jahren. Angeblich ließ Karl 4500 Sachsen hinrichten. Die Awaren, ein Reitervolk im heutigen Österreich und Ungarn, wurden vernichtet. Karl beherrschte schließlich ein Gebiet, das von der Elbe bis zu den Pyrenäen reichte, von der Nordsee bis Rom.

Karls Verdienst: Das noch vorhandene Wissen zu sammeln

Detail des Karlsschreins im Aachener Dom aus dem 13. Jahrhundert. Karl hält die Kirche in der rechten Hand.
Detail des Karlsschreins im Aachener Dom aus dem 13. Jahrhundert. Karl hält die Kirche in der rechten Hand.

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Nur mit dem Schwert war so ein Reich nicht zusammenzuhalten. Neu war, dass dieser Karl eine Herrschaftsidee hatte. Er fand sie im Glauben, sie umfasste Himmelreich und Hölle. Weltliche Macht und lateinisches Christentum gingen bei ihm eine Liaison ein, die die nächsten 1000 Jahre prägen sollte. Mission war jetzt Unterwerfungstechnik, wie der Historiker Johannes Fried in seiner Karl-Biografie schreibt. Wer künftig in der Fastenzeit Fleisch aß, war des Todes. Selbst der verpflichtende sonntägliche Kirchgang geriet zur sozialen Kontrolle. In seinem Reich mussten alle dem heidnischen Naturglauben abschwören.

Doch auch die Kirche befand sich seinerzeit im Niedergang. Bischof Bonifatius beklagte 750, dass Priester Latein nicht mehr beherrschten. Dabei präsentierte die Kirche das einzige korporative Ordnungsmuster, über das die Zeitgenossen noch verfügten, wie Johannes Fried in seinem bemerkenswerten Buch ausführt. Karl stoppte den Verfall, stritt Zeit seines Lebens mit dem Papst über die religiöse Deutungshoheit. Im Jahr 800 zum Kaiser gekrönt, steht er neben dem Papst der Christenheit vor. Und der Papst machte sich unter Karls Schutz endgültig frei von der anderen, in Italien damals präsenten Schutzmacht: dem oströmischen Kaisertum mit seiner Hauptstadt Byzanz, dem heutigen Istanbul. Das sogenannte Abendland nahm unter Karl Konturen an.

Renovatio imperii Romanorum verkündete Karls Siegelring. Die Erneuerung wurde systematisch betrieben und erfasste alle Lebensbereiche. Sein Verdienst war der Versuch, das noch vorhandene Wissen zu sammeln. Die Klöster wurden angehalten, korrektes Latein zu pflegen, die Bildungssprache, die in allen Teilen des Reiches verstanden wurde. Tausende antiker Handschriften wurden abgeschrieben, übertragen auf haltbares Pergament, nicht nur die Schriften der Kirchenväter, sondern auch Cicero und Sallust, Horaz und Juvenal.

Nur ein Bruchteil des antiken Schriftgutes wäre ohne diesen Aufwand erhalten geblieben, schreibt der Historiker Stefan Weinfurter, auch er Autor einer neuen Karl-Biografie. Und als Jahrhunderte später in der Renaissance die antiken Texte wieder studiert wurden, erfreute man sich an einer Schrift, die man Antiqua nannte, weil man sie für antik hielt. Tatsächlich waren es Kopien, verfasst in der karolingischen Minuskel, einer Schrift, entwickelt von jenen Intellektuellen, die Karl um sich scharte und deren Grundlagen noch heute verwendet werden.

Sein Sohn konnte das Reich nicht zusammenhalten, die Enkel gingen aufeinander los

Nicht nur der Krieg, auch Bücher kosteten ein Vermögen. Für einen Folianten benötigte man im 8. Jahrhundert die Haut einer Schafherde. Und die Landwirtschaft in Karls Zeit erbrachte wenig mehr als das, was fürs Überleben der Erzeuger nötig war. Weshalb selbst Karls Königshof zum Reisen verurteilt war. Kaum ein Ort im Reich war in der Lage, die 2000 Personen seiner Entourage über längere Zeit zu versorgen. Auch Aachen fiel das schwer, als der alternde Herrscher die Stadt schließlich zu seinem bevorzugten Wohnsitz machte, weil er lieber dort in den warmen Quellen saß als auf dem Rücken seines Pferdes. Karl ließ Aachen zur Residenz ausbauen, Marmor, ganze Säulen und antike Bauteile wurden in Ravenna und Rom demontiert und zur Wiederverwertung über die Alpen geschafft.

Fast so etwas wie Planwirtschaft scheint in Karls Organisationsstreben auf. Die Frankfurter Synode (794) verhandelte Fragen des Glaubens, aber auch des Münzwesens. Dieses wurde vereinheitlicht – selbst die Angelsachsen, die nicht zu Karls Reich gehören, schlossen sich an. 1,7 Gramm Silber entsprachen auch bei ihnen einem Denar – ein fester Wechselkurs 1200 Jahre vor dem Euro. Gewichte und Preise wurden festgelegt, für die Krondomänen Ausrüstungsstandards geschaffen, bis hin zu der Frage, welche Apfelbäume zu pflanzen waren.

Karls Sohn konnte das Reich nicht zusammenhalten, die Enkel gingen aufeinander los, zwei verbündeten sich in Straßburg gegen den Dritten. Sie taten das in einer romanischen und einer fränkischen Sprache, manche Forscher sehen darin die Wurzeln des Französischen und des Deutschen. Als ältestes Dokument spiegeln die Straßburger Eide die sprachliche Trennung der Reichsteile. Westfranken entsprach über Jahrhunderte recht genau den französischen Grenzen. Ostfranken bildete große Teile des heutigen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz ab.

Es gab also keine Kontinuität, kein neues Rom – auch nicht in Aachen. Aber es gab einen neuen Anfang. Johannes Fried nennt es die Wiedergeburt des logischen, überprüfbaren Regeln unterworfenen Denkens. In der Forschung spricht man von der karolingischen Renaissance. Eine Bilanz, derer man sich nach 1200 Jahren noch erinnert. Nicht schlecht für einen Herrscher, der wahrscheinlich Analphabet war, aber als Erster die Bildung zur Chefsache machte.

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