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Irahim Maham hat 100 Schubkarren in die Leipziger Galerie Reiter gebracht

© Galerie Reiter Leipzig / Berlin

Kapitalismuskritik in Leipzig: Der Karren im Dreck

Die Galerie Reiter hat den Starkünstler Ibrahim Mahama für eine Ausstellung nach Leipzig geholt.

Die Galerie Reiter befindet sich im Umbau. Dutzende Schubkarren zeugen von der Anstrengung, die Räume auf dem Gelände der Leipziger Spinnerei vom Schutt zu befreien. Oder haben sie die braune Erde voll kleiner und größerer Steinen überhaupt erst reingetragen? Je länger man vor dieser rostigen Versammlung steht, desto rätselhafter wird ihre Anwesenheit. Denn auch, wenn auf einigen „Made in Germany“ steht, würde sie kaum einer noch auf dem Bau verwenden. Die Schubkarren sind geflickt und fragil, manche haben nicht einmal mehr Räder. Stattdessen wurde improvisiert – genau wie in der Galerie Reiter, die während des Lockdowns im vergangenen Jahr über das Schicksal eines vollen Übersee-Containers entscheiden musste. Darin: 100 Karren, die Ibrahim Mahama Arbeitern in Ghana abgetauscht hatte. Sein Projekt in Leipzig war geplant, fand aber wie so vieles in der Hochphase von Corona nicht statt.

Inzwischen steht die Ausstellung „Vanishing Points. 2014-2020“, und man muss den Hut vor soviel Chuzpe und Einsatz ziehen, wie ihn die Galerie gezeigt hat. Es beginnt schon damit, dass Mahama zwar weltbekannt, aber nicht im Programm von Reiter ist. Der ghanaische Konzept- und Performancekünstler war auf der „Documenta 14“ in Athen und Kassel vertreten, man kennt seine mit Jutesäcken verhängten Gebäude aus Mailand, London oder Kiew, die so eine zweite Haut bekommen: dunkel, erzählerisch, mitunter anklagend. Auch Galerist Torsten Reiter sind sie immer wieder begegnet. Und Mahamas Absichten entsprechen so ganz den Erwartungen, die Reiter an gegenwärtige Kunst hat: Sie reflektiert soziale Prozesse wie auch globale Zusammenhänge und rückt in den Blick, was Europäer so gern vergessen. Dass unser Turbokapitalismus an anderen Enden der Welt Schweiß und Dreck produziert.

Jene „Fluchtpunkte“ rückt der gefragte Künstler so unerbittlich wie körperlich spürbar zurück ins Sichtfeld. Die von ihm gern verwendeten Jutesäcke vermitteln Geschichte(n), und vielleicht hat Torsten Reiter auf ein ähnlich pflegeleichtes Material gehofft, als er Mahama vor längerem ansprach. Ob er sich eine Ausstellung in Leipzig vorstellen könne?

[Galerie Reiter, Spinnereistr. 7; bis 18.9., Di–Fr 11–18 Uhr, Sa 11–16 Uhr. Am 17.9. finden im Museum der bildenden Künste Leipzig um 18 Uhr ein Artist Talk und die Buchvorstellung zum Projekt statt.]

Die Zusage kam schnell – und dann kamen bald auch die 100 Schubkarren aus Ghana an. Starres Blech, Urviecher einer Gesellschaft, in der der einzelne seinen Körper als direkte Währung verkauft. Später trudelte noch eine Skizze dazu ein, wie Ibrahim Mahama sich die Installation so vorstellt. Das Leipziger Ergebnis ist ein Coup.

Sobald man eintritt, wird man Teil des Werks

Dabei stellt „Vanishing Points. 2014-2020“ einen vor Aufgaben von institutioneller Größe. Ein künstlerisches Mammutprojekt, das Geld, Logistik und (Wo)Manpower verschlingt. Ähnlich wie die körperliche Arbeit an der Schubkarre, bloß mit einem anderen Ergebnis. Die Galerie Reiter hat es dennoch gestemmt und zeigt in ihren Räumen nun eine eindrucksvoll Installation. Das erste Solo-Projekt des Künstlers in einer deutschen Galerie überhaupt. Ein Ballett der rostigen Riesenkäfer, die sich mit den Fühlern nach oben zur Ruhe aufgestellt haben. „Es können auch verrostete, ausgebeulte Körper sein, die an Skelettextremitäten herunterhängen“, heißt es im begleitenden Ausstellungstext der Kunsthistorikerin Larissa Kikol. Den Assoziationen sind kaum Grenzen gesetzt, und entziehen kann man sich den schrundigen Objekten so wenig wie dem erdigen Geruch, der die Galerie durchweht. Sobald man eintritt, wird man ein Teil des Werks.

Ibrahim Mahama zitiert die Land Art, gleichzeitig schichtet er ein Monument der schweren körperlichen Arbeit und rührt am Begriff der Sozialen Plastik, die das 20. Jahrhundert Joseph Beuys verdankt. Dass dabei trotzdem kein beliebiger Mix herauskommt, sondern eine präzise Analyse postkolonialer Zusammenhänge, verdankt sich der Qualität des Künstlers.

Mahama ist seit langem auch aktivistisch tätig. Sein Engagement hat zwei neue Standorte für aktuelle Kunst in Ghana hervorgebracht, seine Tauschgeschäfte – Altes und Gebrauchtes gegen Neues – stehen ebenfalls in Verbindung mit dem in Tamale initiierten Projekt „Parliament of Ghosts“. Ein Forum für diskursiven Austausch, wie es derzeit auch die Galerie Reiter darstellt. Ein Ort im Umbau, der mehr meint als pures makeover für den Raum.

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