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Weltkulturerbe. Die Hufeisensiedlung in Berlin.

© Ben Buschfeld/dpa

Juwelen der Baukunst: Wo sich in Berlin das Flanieren noch lohnt

Vor über 100 Jahren wurde Berlin zur Megametropole. Die sozialen Bauten von einst sind nicht nur Hingucker. Sie erinnern daran, was kluge Stadtplanung ausmacht.

Der Segen ist sichtbar. Wer den Corona-Sommer genutzt hat, um durch die Berliner Seitenstraßen zu flanieren, mehr oder weniger planvoll im urbanen Raum herumzustromern, dem sind sie überall ins Auge gefallen: die Wohnsiedlungen aus den 1920er Jahren, Stein gewordene Zeugen einer klugen Stadtplanungspolitik, die Bauen und Soziales zusammendachte.

Vor 100 Jahren wurde aus Berlin und seinen Umlandgemeinden über Nacht eine Megametropole, glitzernd in ihren Innenstadtbereichen, wo Avantgardekunst und Amüsemang geboten wurde, wo es Bars, Restaurants und Clubs gab, in denen wirklich jeder auf seine Art selig werden konnte.

Auf der Kehrsseite gab es Elend, Armut, grauenhafte Lebensbedingungen in feuchten, überbelegten Mietskasernen. Der Wohnungsnot wurde damals mit einem Bauprogramm begegnet, dessen Ergebnisse bis heute positiv aus dem Stadtbild herausragen. Weil sich hier der gestalterische Wille einer Architektengeneration manifestierte, die sich vom Zwang zur preiswerten Produktion nicht ihre ästhetischen Gestaltungsmöglichkeiten rauben lassen wollte.

Jene sechs Berliner Siedlungen, die mittlerweile auf der Weltkulturerbe-Liste der Unesco stehen, sind nur die Juwelen einer Bewegung, die in allen Bezirken hunderte Halbedelsteine hinterlassen hat. Zur theatralisch spektakulären Hufeisensiedlung pilgert man ebenso gern wie zur kunterbunten Onkel-Tom-Siedlung und zur schön-strengen Großsiedlung Siemensstadt, weiteste Anfahrwege lohnen die Gartenstadt Falkenberg ganz im Südosten ebenso wie die elegante Wohnstadt Carl Legien in Pankow.

Unerwartet idyllisch liegt die Schillerpark-Siedlung im Wedding, mit großstädtischer Geste überspannt das Torhaus der Weißen Stadt die Aroser Allee. Doch auch jenseits der stilbildenden Beispiele erfreuen die Sozialbauprojekte aus den Zwanzigerjahren Herz und Auge des Kiezspaziergängers. Weil es an den vereinheitlichten Fassaden immer durchdachte Details zu entdecken gibt.

Die Baumeister von einst hatten die Menschen im Blick

Mal ist es eine Türeinfassung in bearbeitetem Naturstein, mal ein hervorspringendes Treppenhaus, hier gibt es eine effektvolle Rundung an der Straßenecke, dort ungewöhnlich geschnittene Balkone. Farben setzen Akzente, es wird mit lebendigen, rauen Putzflächen gespielt und mit Backstein in jeder nur erdenklichen dekorativen Anordnung. So entsteht Schönheit für alle, in zeitgemäßer Form, es passt noch heute.

Mögen die Stuckfassaden der Gründerzeit die Paläste der Aristokraten kopieren, mit ihren Säulen und Kapitellen, Wappen und Putten aus Gips – die Architekten der Moderne denken in humaneren Dimensionen und zeigen über den Eingängen ihrer Wohnsiedlungen lieber Figuren aus der Arbeitswelt oder dem Tierreich.

Wie sehr diese Baumeister den Menschen im Blick hatten, wird deutlich, wenn man die sogenannten gehobenen Wohnviertel durchstreift. Was dort zwischen den wenigen verbliebenen historischen Häusern entstanden ist, enttäuscht fast immer.

Die modernen Stadtvillen sind vor allem für Investoren da

Ein Bummel durch die Straßen rund um den Platz Am Wilden Eber in Dahlem beispielsweise oder auch durch die Gegend, die westlich der Clayallee in den Grunewald hineinragt, ist unter ästhetischen Gesichtspunkten zutiefst deprimierend. Jede Menge seelenlose Gebäude stehen heute da ohne den geringsten architektonischen Mehrwert.

Vor gut einem Jahrhundert wollten die Baumeister der Wohnsiedlungen das Leben für sehr viele ein wenig angenehmer gestalten. Die modernen Stadtvillen dagegen scheinen jetzt nur einem Ziel verpflichtet: die Investoren ein gutes Stück reicher zu machen.

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