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Justin Timberlake: Der Entschleuniger

Grandios und völlig irre: Justin Timberlake erfindet sich mit seinem dritten Album "The 20/20 Experience" als Pop-Experimentator neu.

Von Jörg Wunder

Als Justin Timberlakes letzte Platte erschien, war Lady Gaga noch eine New Yorker Kleinkunstnudel, Rihanna galt als hoffnungsvolle R’n’B-Sängerin aus Barbados und ein präpubertärer Justin Bieber machte erste Gehversuche als Hobbymusiker. Fast sieben Jahre war Timberlake weg. Na gut, nicht wirklich weg: Er hat Gastauftritte absolviert, etwa bei Madonna oder dem Comebackversuch der Synthiepopper Duran Duran. Und er hat eine beachtliche Hollywoodkarriere hingelegt mit tragenden Rollen sowohl in Komödien als auch in ernsten Werken wie David Finchers „The Social Network“.

Aber er hat sich doch ziemlich rar gemacht für einen Musiker, der das Potenzial hatte, im 21. Jahrhundert noch mal ein globales Popstar-Narrativ zu generieren. Nach stressigen Jahren in der Kaderschmiede des Mickey Mouse Clubs und als Vorzeigeschönling der Boygroup ’N Sync gelang Justin Timberlake mit nur einem Album der Sprung ins Solo-Großverdienerfach. Er hätte, wenn er seine Karten clever ausgespielt hätte, wohl tatsächlich ein Nachfolger für Michael Jackson werden können, den er in der Frühphase seiner Solokarriere ungeniert kopierte. Aber warum ein kleineres Vorbild wählen, wenn man den typischen Jacko-Schmelz in der Stimme hat und die Tanzmoves des Meisters mühelos hinbekommt? Zumal der ehemalige King of Pop damals, also 2002, bereits in den Seilen hing.

Waren schon die vier Jahre Pause zwischen Timberlakes Debüt „Justified“ und dem Nachfolger „FutureSex/LoveSounds“ ein kommerzielles Risiko, so sind sieben Jahre Schweigen reines Karrieregift. So was kann sich vielleicht eine Songwriter-Sphinx wie Bob Dylan erlauben, aber kein Mainstream-Superstar mit wankelmütiger Anhängerschaft. Da nichts darauf hindeutet, dass Timberlake unter einer kreativen Blockade gelitten hat, muss man die Auszeit wohl als Teil einer Strategie verstehen: Hier hat einer alles auf null gestellt. Hat die Erwartungshaltungen ins Leere laufen lassen, hat die Gagas, Rihannas, Biebers machen lassen. Hat die Trends von Eurotrash-Revival bis Dubstep an sich vorbeiziehen lassen. Wenn am heutigen Freitag das dritte Album erscheint, wird man Jüngeren noch mal erklären müssen, wer denn dieser Justin Timberlake überhaupt war.

Oder man versucht es erst gar nicht, denn „The 20/20 Experience“ richtet sich kaum an ein minderjähriges Publikum: Dies ist Erwachsenenmusik. Schon das Format beweist, dass hier einer die üblichen Verwertungsmechanismen lässig ignoriert. Auf der Platte befinden sich nur zehn Songs, aber die sind im Durchschnitt sieben Minuten lang, mithin für den Einsatz im Formatradio ungeeignet. Der Opener „Pusher Love Girl“ macht acht Minuten lang deutlich, dass der alte Disco-Imperator abgedankt hat. Aus einem hollywoodreifen Streicherintro schält sich ein hypnotischer Zeitlupengroove, über den Timberlake von einer Liebe schmachtet, die wie eine Droge ist: „I’m just a junkie for your love / my heroin, my cocaine, my plum wine, my MDMA“. Eine Monsterballade als Einstieg, das ist mal eine Ansage.

Produzent Timbaland gelingt eine Wiederauferstehung

Geschmackvoll. Justin Timberlake bei den Brit Awards.
Geschmackvoll. Justin Timberlake bei den Brit Awards.

© dpa

Es folgt die erste Single „Suit & Tie“, deren schwereloser Beat über einem fragilen Samplingkonstrukt aus Marimba und Harfenarpeggios wie Kohlensäure in die Nase steigt. Im Kontext des Albums wirkt auch der eher lahme Rap von Jay-Z stimmiger, die zwischenzeitliche Tempoverschleppung findet sich bei vielen Stücken. So auch bei „Don’t Hold The Wall“: ein schräger Mix aus meckernden Wüstengesängen, Tablas, Grillengezirpe, grufttiefen Wubbelbässen, der nach fünf Minuten einen Twist ins Dubbige bekommt. Was ist das überhaupt: psychedelischer Ethno-Soul? Trip Hop?

Und damit hören die Genre-Expeditionen nicht auf: „Strawberry Bubblegum“ verbindet laszives Geflüster wie von einer alten Isaac-Hayes-LP mit Justins Falsettkieksern zu pluckernden Tropfsteinhöhlenbeats, „That Girl“ ist lupenreiner Southern Soul in liebevoll gefakter Live-Atmo, bei dem sich der aus Tennessee stammende Baptistensohn Timberlake als leidenschaftlicher Sänger einer fiktiven Combo namens JT & The Tennessee Kids ausgibt.

Das adäquat betitelte „Let The Groove Get In“ lässt an eine Bollywood-infizierte Neuerfindung von Michael Jacksons „Wanna Be Startin’ Somethin’“ denken. „Spaceship Coupe“ schließlich ist wie eine dieser durchgeknallten Prince-Balladen aus den Achtzigern, wo disparate Soundelemente (hier: schnarrende Synthiebässe, ornamentaler Stöhngesang, ekstatisches Rockgitarrensolo) zu einem hypnotischen Ganzen verschmelzen, über das Timberlake von den Wonnen des Privatraumschiffs säuselt. Grandios. Und völlig irre. Noch am konventionellsten klingt „Mirrors“, ein geschmeidiger R’n’B- Schnurrer, der als zweite Single ausgekoppelt wurde. Wie anders diese Platte hätte werden können, zeigt das als Zusatztitel auf der „Deluxe Version“ erhältliche „Body Count“: Hier hat noch mal der Zeremonienmeister des Dancefloors seinen Auftritt, mit flirrenden Beats und Flamencogitarren, wie ein Update seines 2002er-Hits „Senorita“. Geht super in die Beine, und doch: eine ganze Platte davon würde man nicht hören wollen.

Wenn man die außergewöhnliche Qualität dieser Platte lobt, kommt man nicht am Produzenten vorbei. Es war zunächst eine Überraschung, als bekannt wurde, dass Timbaland für das Sounddesign zuständig sein würde. Der war schon bei Timberlakes Debüt am Start, wo er jedoch im Schatten der Neptunes stand, die für die spektakulären Club-Kracher wie „Rock Your Body“ verantwortlich zeichneten. „FutureSex/LoveSounds“ wurde dann Timbalands Meisterstück: Die futuristischen Stop-and-go-Beats von „SexyBack“ oder „Damn Girl“ eroberten dem Mainstream neues Terrain.

Der Erfolg öffnete ihm viele Türen, und Timbaland produzierte am laufenden Band. Darunter litt die Qualität, sein Stern sank und spätestens 2010 war er ein Has- Been. Doch für seinen Premiumkunden hat er sich jetzt offenbar noch einmal richtig zusammengerissen. Man wird lange suchen müssen, um eine Platte zu finden, die so fantastisch klingt wie „The 20/20 Experience“. Die Arrangements erzeugen halluzinogene Klangstrudel und sind dennoch bis ins letzte Detail ausdifferenziert. Als Beispiel höre man nur „Blue Ocean Floor“, eine von ambientösem Geklapper und Geschnaufe durchzogene Ballade, die auf ein ozeanisches Finale zusteuert: als würde ein Streichorchester auf den Meeresgrund hinabsinken.

Ironischerweise hat das Weißbrot Justin Timberlake mit „The 20/20 Experience“ ein wegweisendes Werk der Black Music geschaffen: Er greift die Arbeiten von Visionären wie Marvin Gaye, Isaac Hayes, Prince oder Kanye West auf und destilliert daraus zwischen Soul, Softrock, Hip-Hop, R’n’B und Funk sein eigenes Opus Magnum, das ihn als einen großen Popkünstler seiner Zeit bestätigt. Er hat dabei nicht nur seine Musik, sondern auch seine Karriere radikal entschleunigt. Ein so heroischer wie logischer Schritt eines Mannes, der sich von der Hysterie seiner Jugend emanzipiert hat.

„The 20/20 Experience“ erscheint bei Sony Music.

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