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Jury-Präsident James Schamus

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Jury-Präsident James Schamus: Kritik der Urteilskraft

James Schamus, 16 Oscars schwer, liebt das Independentkino. Fragt man den Jury-Präsidenten der Berlinale hingegen nach Blockbustern, antwortet er mit Kant: "Der Philosoph nennt es negative Lust". Ein Glück, dass ihm schon in den 1990ern der Zoo-Palast positive Lust versprach.

Anruf in New York. James Schamus ist ein viel beschäftiger Mann. Hat in vier Monaten zwei Drehbücher fertiggestellt, eins nach dem Philip-Roth-Roman „Empörung“ und ein Biopic über Fela Kuti, realisiert mit Ang Lee einen 3-D-Film um den legendären Kampf von Muhammed Ali und Joe Frazier, bringt ein akademisches Buch über eine einzige Seite aus den Geheimdienstakten seiner Frau heraus, der Schriftstellerin und AntikriegsAktivistin Nancy Kricorian. Er schickt eine Mail, plötzliche Termine. Ob man früher als vereinbart telefonieren könne, im Vorfeld der Berlinale, wo er die Jury leitet, der u.a. Barbara Broccoli, Greta Gerwig und Christoph Waltz angehören.

Also legt man den Artikel aus dem „New York Magazine“ beiseite, der die Reaktionen auf das Aus für Schamus als Chef des erfolgreichen Independentstudios Focus Features im Herbst referiert („schockierend“, „dramatisch“), greift zum Hörer und fragt erst mal nach Plato. James Schamus, Jahrgang 1959, aufgewachsen in Kalifornien, Pionier des Indie-Kinos, Entdecker von Ang Lee, (Ko-)Autor von „Tiger & Dragon“, „Der Eissturm“ und „Gefahr und Begierde“, Produzent von Erfolgsfilmen wie „Lost in Translation“, „Milk“, „Dallas Buyers Club“ und dem Oscar-Gewinner „Brokeback Mountain“ – dieser Mann ist nämlich auch noch Philosoph. Mit Doktorarbeit in Berkeley und Studenten an der Columbia.

Also bitte, was nützt Plato beim Filmeproduzieren? Unphilosophische Frage, grinst Schamus durch den Hörer, mit Verweis auf Kants „Kritik der Urteilskraft“. Okay, sind es völlig getrennte Sphären? Wieder falsch. Schon Adorno entlarvte die Idee der Trennung von Theorie und Praxis als kapitalistische Ideologie. Dem Nutzdenken passt es gut in den Kram, wenn Kunst als unnütz verharmlost wird. Überhaupt, Adorno, den liebt er.

Der anspruchsvolle Film habe neben Blockbustern kaum noch Chancen, sagt Schamus

Zurück zum Film. Seine Definition von Independent-Kino? Schamus mag Hardcore-Autorenfilme, seine Dissertation schrieb er über Carl Theodor Dreyers „Gertrud“, aber als Produzent setzt er auf ein breites Publikum zwischen Arthouse-Spezialistentum und Popcorn-Kino. Seine Beziehung zu Ang Lee nach zehn gemeinsamen Filmen? „Langsam haben wir die Odd-Couple-Phase hinter uns und stellen uns auf die Zeit als Zimmernachbarn im Altersheim ein.“ Nummer 11, der Box-Film? „Ein Wahnsinnsprojekt.“ Nach „Avatar“ und „Gravity“ wollen sie die 3-D-Kunst vorantreiben und den Zuschauer direkt zu Ali und Frazier in den Ring schicken. „Der Philosoph nennt es negative Lust“, kommt er wieder mit Kant und kontert auch auf die Frage nach der Schließung der New Yorker Zentrale von Focus Features virtuos dialektisch. „Was immer ich zu meiner Kündigung sage, klingt entweder eigennützig und defensiv oder verlogen. In jedem Fall: idiotisch.“

Große Studios wie Universal wollen neben dem Blockbustergeschäft keine Firmenzweige mehr mit anspruchsvollen, mittelgroß budgetierten Publikumsfilmen. Eine Geschäftslogik, die Schamus respektiert, auch wenn er nach einem Vierteljahrhundert voller Erfolge (16 Oscars!) weiter an diese Art Kino glaubt. Die digitale Zeitenwende sieht er gelassen, die Filmindustrie hat schon ganz andere Krisen überlebt. Wie war das in den Sechzigern, als das Fernsehzeitalter anbrach? Er erinnert sich gut an sein erstes Faxgerät. „Mein Büro war noch mit meinem Schlafzimmer identisch, um zwei Uhr morgens ratterte eine Papierschlange aus der Maschine, mit einer Einladung zum Filmfest in Bombay. Und Sie fragen mich, was sich seitdem geändert hat!“

Sein schönstes Berlinale-Erlebnis war die Premierennacht von Ang Lees „Hochzeitsbankett“, 1993. Er saß in der letzten Reihe des Zoo-Palasts, mit Good-Machine-Partner Ted Hope, keiner wollte den Film haben, sie fürchteten das Aus für ihre Firma. Aber schon nach wenigen Minuten gab es Gelächter und Szenenapplaus; vier Tage lang rissen sich Einkäufer aus aller Welt dann um die Multikulti-Queer-Komödie. Und den Goldenen Bären gab es auch. „Die Nacht hat mein Leben verändert“, sagt Schamus, seitdem liebt er Berlin. Sollte er sich je als Produzent zur Ruhe setzen, will er sich fürs Wissenschaftskolleg bewerben.

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