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Engagiert sich gern politisch. Die Schriftstellerin Juli Zeh, 42, auf dem Lande.

© Thomas Müller/Verlag

Juli Zehs "Unterleuten": Windkrafträder auf Misthaufen

Nur Gutes wollen, damit aber Unheil anrichten: Juli Zehs Dorfroman „Unterleuten“.

Das brandenburgische Land ist sowohl Sehnsuchts- als auch Kulminationsgebiet. Hier, im weiten, flachen Gürtel der Hauptstadt, prallen Vorstellungswelten und Lebensentwürfe aufeinander. Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, promovierte Juristin, Absolventin des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig, weiß, wovon sie spricht und worüber sie schreibt: Vor einigen Jahren hat sie ein Haus in einem Dorf in Brandenburg gekauft und lebt dort mit Mann und Kind. Der Weiler Unterleuten, der ihrem neuen Roman den Titel gibt, dürfte also eine Zuspitzung von eigener Erfahrung und trotzdem reine Fiktion sein. Das ist im Grunde für einen Roman nicht wichtig, aber es erklärt die größte Stärke, die Zehs mehr als 600 Seiten dicken Roman auszeichnet: Jede Figur ist in einer ungeheuren Genauigkeit, Differenziertheit und Plastizität aufgebaut und gezeichnet.

Das ist umso bemerkenswerter, als dass es in „Unterleuten“ keine Haupt- und Nebenfiguren gibt, sondern ein knappes Dutzend gleichberechtigter Erzählstimmen, die das Geschehen wechselweise und aus jeweils streng subjektiver Perspektive immer wieder neu beleuchten. Das ist der Clou des Romans und gleichzeitig die Grundlage des Kommunikationsmodells, von dem Zeh ausgeht. Sprache dient den Menschen in Unterleuten nicht der Verständigung, sondern trägt immer nur zum Missverständnis bei, bis sich die fein bis in die DDR-Vergangenheit hineingesponnenen Erzählfäden zu einem derart unübersichtlichen Knäuel verwirrt haben, dass nur noch ein Mittel hilft, das Chaos aufzulösen: Gewalt.

An Juli Zeh, die ganz bewusst den aus der Mode gekommenen Habitus der politischen Schriftstellerin im klassischen sozialdemokratischen Stil pflegt, wird mit jedem neuen Buch die Erwartung einer engagierten Haltung herangetragen. Zunächst einmal aber ist „Unterleuten“ enorm unterhaltsam und handwerklich raffiniert gemacht. Ein Gesellschaftsroman, wie der Verlag behauptet. Ja, auch das. In erster Linie aber ein Roman über ein Dorf, an dessen Strukturen sich gesellschaftliche Phänomene ablesen lassen.

Im Dorf zeigt sich, was der "gläserne Mensch" ist

Um in einem Dorf etwas in Bewegung zu bringen, braucht es einen Konflikt. Dessen Herd tritt in Unterleuten auf in Gestalt eines westlichen Grundstücksspekulanten, der still und heimlich einen nicht unbeträchtlichen Teil der zum Verkauf stehenden Brachflächen gekauft hat. Und in Person eines jungen Mannes, der auf einer Bürgerversammlung die Pläne zur Errichtung von zehn Windrädern oberhalb von Unterleuten erläutert. Das bringt die Dinge ins Rutschen.

Der Roman umfasst einen Zeitraum von noch nicht einmal zwei Monaten im Juli und August 2010. Danach wird das Dorf Unterleuten ein anderes sein. Ob das gut oder schlecht ist, mag offenbleiben. „Unterleuten“, so heißt es, „war das reinste Panoptikum. Wenn sich Datenschützer in der Zeitung wegen Überwachung im Internet ereiferten, musste Kron regelmäßig lachen. Man musste nur ein handelsübliches Dorf besuchen, um zu verstehen, was der gläserne Mensch tatsächlich war.“ Diese Gedanken stammen von dem alten Kron, ein ehemaliger Kommunist und eines der beiden Alphamännchen in Unterleuten. Kron ist ein kleiner, schmaler, verbitterter Kerl mit zerschlagenem Bein (die Hintergründe dieses angeblichen Unfalls vor rund 20 Jahren bilden den Urgrund für die Konfliktlinien), der nach der Wende alles verloren hat und nun einen erbitterten Kleinkrieg führt gegen seinen alten Kontrahenten Gombrowski, Alphamännchen Nummer zwei; körperlich das exakte Gegenteil, massig, schlau, machtbewusst.

Ein ost-west-deutscher Mentalitätsaufprall

Gombrowski hat den ehemaligen LPG-Betrieb in ein privatwirtschaftliches Unternehmen umgewandelt und ist nicht nur der größte Arbeitgeber, sondern auch der mächtigste Strippenzieher in Unterleuten. Seidel, der Bürgermeister, ist nur Bürgermeister von Gombrowskis Gnaden, und auch Seidel hat eine Beschädigung aus DDR-Zeiten: Seine an Krebs gestorbene Ehefrau hat im Dienst der Staatssicherheit ihn und das gesamte Dorf bespitzelt, was Seidel aber erst nach der Beerdigung durch Zufall herausgefunden hat. So hängt alles mit allem zusammen in „Unterleuten“, hat Juli Zeh die biografischen und verwandtschaftlichen Verbindungen und die ökonomischen Abhängigkeiten straff miteinander verknüpft. Und sie inszeniert Demarkationslinien, die durch Unterleuten verlaufen, auch als ost-west-deutschen Mentalitätsaufprall.

Denn in Unterleuten gibt es, versteht sich, auch die Zugezogenen. Die Besserwisser, wie es einmal heißt, die gekommen sind, um zu sagen, was ihnen alles nicht passt. Die, die nicht mit dem Nachbarn reden, sondern gleich den Anwalt einschalten. Herr Fließ ist der Schlimmste von allen. Verkrachter Universitätsdozent mit jüngerer Frau und kleinem Kind. Vor drei Jahren nach Unterleuten gezogen. Vogelschützer. Und natürlich einer, dem die Umwelt am Herzen liegt – aber nicht, wenn Windkrafträder in Sichtweite aufgebaut werden sollen.

Oder Linda Franzen (ein Name als dezente Verbeugung), die Pferdefrau, die in Unterleuten die sogenannte Villa Kunterbunt gekauft und ihr Denken und Handeln nach den Maximen des Managermotivators Manfred Gortz (den es wirklich gibt) ausgerichtet hat. Dessen Weisheiten hat Zeh als komische Leitmotive eingebaut: „Der eigene Schatten verschließt das Tor zum richtigen Weg.“ Aha.

Kapitalismuskritische Juli-Zeh-Sätze

„Unterleuten“ hat durchaus Schwächen. So dynamisch und überraschend der ständige Perspektivenwechsel ist, so statisch sind mitunter die Zuschreibungen der Rollen und Bedeutungen in Bezug auf die einzelnen Häuser und Anwesen im Dorf. Stellenweise kommt man sich wie in einer virtuos gemachten Soap Opera vor. Und häufig legt die Autorin ihren Figuren wohlfeile kapitalismus- und selbstoptimierungskritische Juli-Zeh-Sätze in den Mund, die man so oder ähnlich schon gehört hat: „Seit die Wirtschaft gelernt hatte, die Sprache der Moral zu sprechen, lag das politische Engagement im Koma.“

Diese Einwände fallen aber nicht sonderlich ins Gewicht, weil es Juli Zeh tatsächlich gelungen ist, in einem rasanten (und trotz seines Umfanges nicht zu langen) Text Gegenwartsphänomene und moralische Fragen darzustellen: Die Idealisierung des als authentisch empfundenen Landlebens. Die Tatsache, dass hinter dem Umzug aufs Land oft ein verdrängter Konflikt schwelt. Die Überlegung, wem man verpflichtet ist: der Gemeinschaft oder sich selbst?

Es gibt in Zehs Unterleuten keine Guten und keine Bösen, nur Menschen, die etwas Gutes wollen und dabei Unheil anrichten. Jeder unterstellt seinem Gegenüber etwas – und stets, das ist die Pointe, liegt er oder sie damit falsch. Es ist verblüffend, wie perfide Zeh ihren Lesern Identifikationsangebote mit ihren Figuren macht, mit diesen Kleingeistern, Sturköpfen, Verlierern und Gewinnern – um diese kurz darauf wieder zu revidieren.

Das Böse, so lautet ein Sprichwort, sei ein Misthaufen. Jeder sitze auf seinem und quatsche über den des anderen. Juli Zeh führt ihren Roman in ein erstaunlich blutiges und düsteres Finale. Warum es so viel Gewalt auf der Welt gebe, fragt sich Fließ und gibt gleich die Antwort: „Weil Gewalt verdammt einfach war.“

Juli Zeh: Unterleuten. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 640 Seiten, 24, 99 €.

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