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Lavierer zwischen den Fronten. Der bosnische Schriftsteller Ivo Andrik 1961, im Jahr der Nobelpreisverleihung, in Belgrad.

© ddp/ intertopics/ eyevine/ Graziano

Jugoslawiens einziger Literaturnobelpreisträger: Ivo Andrić in einer neuen Biografie

Er war Schriftseller und Diplomat, schwieg im Krieg und arrangierte sich mit Tito. Michael Martens hat eine faszinierende Biografie des Erzählers Ivo Andrić geschrieben.

Ivo Andrić, 1892 im bosnischen Travnik geboren, kam von unterentwickelten Rand Europas. Aber ihm wehte früh der Atem der Weltgeschichte um die Ohren. Die Kindheit verbrachte der Sohn einer Teppichknüpferin und eines früh verstorbenen Kupferschmieds (womöglich aber auch eines katholischen Ordensbruders) in Višegrad, damals ein Kaff mit 1500 Einwohnern und einer Kaserne mit 2000 Soldaten.

Bosnien stand unter Verwaltung Österreich-Ungarns, nach 400 Jahren osmanischer Herrschaft. Und die Österreicher bauten nicht nur Kasernen, Brücken und Eisenbahnen, sondern in Sarajevo auch ein Gymnasium, das Ivo Andrić als Stipendiat besuchte. Die Dankbarkeit der jungen Bosnier hielt sich allerdings in Grenzen.

Sie fühlten sich kolonisiert. Da gab es jenen rebellischen Zirkel von Schülern und Studenten, Mlada Bosna, das junge Bosnien, wo man vom Zusammenschluss der Südslawen träumte und einen literarisch ambitionierten Terrorismus verherrlichte. Andrić gehörte dazu.

Aus dem Gymnasium kannte er Gavrilo Princip, der im Juni 1914 den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand erschoss. Mit dem Organisator des weltumstülpenden Attentats war er sogar befreundet. Als die Schüsse fielen, weilte er selbst allerdings als Student in Krakau. Deshalb fiel die Strafe für ihn glimpflich aus: acht Monate Haft.

Nicht nur Erzähler, sondern auch Diplomat

Kein Zweifel, mit der glänzenden Andrić-Biografie von Michael Martens, seit Langem Südosteuropa-Experte der „FAZ“, befindet man sich in den Wirbeln des 20. Jahrhunderts. Denn Andrić, dank einer schweren Lungenerkrankung verschont von den Stahlgewittern des Ersten Weltkriegs, hat sich nicht nur als Erzähler rasch einen Namen gemacht, sondern zugleich eine Karriere als Diplomat verfolgt.

Es war ein Doppelleben mit sorgfältig getrennten Identitäten. Als ranghoher Gesandter im Dienst des Königreichs Jugoslawien war er ein gewandter, immer bestens informierter Mann, der fließend mehrere Sprachen beherrschte. Als Schriftsteller dagegen hasste er zeitlebens jeden öffentlichen Auftritt, durchlitt jedes Interview, vermied alle Konferenzen, Debatten und Bekenntnisse.

1939 begann seine heikelste politische Mission an der Botschaft in Berlin. Martens widmet diesen Jahren ausführliche Kapitel, die hinter die Kulissen der internationalen Machtpolitik blicken.

Hitler wollte Jugoslawien als Verbündeten gewinnen, um ohne Störungen auf dem Balkan die Sowjetunion angreifen zu können; zudem hatte er ein Auge auf das bedeutendste europäische Kupferbergwerk im serbischen Bor geworfen.

Verhandlungen mit den Nazis

Andrić wurde deshalb von Göring, Ribbentrop und dem Staatssekretär Ernst von Weizsäcker überaus zuvorkommend behandelt. Im Bemühen, Jugoslawien aus dem sich abzeichnenden Weltkrieg herauszuhalten, äußerte er diplomatische Schmeicheleien gegenüber dem Nationalsozialismus, die ihm später, unter Tito, das Genick hätten brechen können.

Im März 1941 trat Jugoslawien unter dem wachsenden Druck Hitler-Deutschlands dem Dreimächtepakt der faschistischen „Achse“ bei. In diesem Fall gehörte Andrić ausnahmsweise nicht zur Verhandlungsdelegation – einer der Glücksfälle seines Lebens, denn als Schmied dieser Allianz wäre er später im Kommunismus einer der „Kollaborateure“ gewesen, mit denen Titos Partisanen blutig abrechneten.

1941 aber fühlte Andrić sich übergangen und bat um Ablösung von seiner Stelle in Berlin, was man ihm später, unter Tito, sogar als Protest gegen den Pakt auslegte; Andrić hat dann lieber geschwiegen.

Der Beitritt zur „Achse“ war im Übrigen nach zwei Tagen hinfällig; in Jugoslawien putschte eine Gruppe serbischer Offiziere, und der wutschnaubende Hitler verlor die Geduld mit dem Land. Belgrad wurde bombardiert und Jugoslawien in nur elf Tagen von der Wehrmacht erobert.

Rückkehr ins besetzte Belgrad und Leben unter Tito

Dass Andrić trotz seiner Vergangenheit als Repräsentant des Monarchismus und als Diplomat bei Hitler im kommunistischen Jugoslawien rehabilitiert wurde, verdankt sich vor allem seiner klugen Entscheidung, 1941 nicht – wozu er die Möglichkeit gehabt hätte – ins Schweizer Exil zu gehen, sondern ins besetzte Belgrad zurückzukehren.

Drei Jahre lang, während der Weltkrieg und in Jugoslawien zudem ein martialischer Bürgerkrieg wütete, zog er sich völlig zurück, publizierte nichts und schrieb jene drei Romane, die nach 1945 seinen Ruhm begründeten: „Die Brücke über die Drina“, „Wesire und Konsuln“, „Das Fräulein“.

Mit der Diktatur Titos arrangierte er sich dann, weil nur sie den Fortbestand Jugoslawiens garantieren und den Nationalismus in Schach halten konnte. Umgekehrt konnte das Regime den international renommierten Schriftsteller, der 1961 den Nobelpreis erhielt, als Aushängeschild für die Kultur und vermeintliche Toleranz gegenüber „bürgerlichen“ Intellektuellen in Jugoslawien gut gebrauchen.

„Genosse Ivo“ musste nun gelegentlich Baustellen und Bergwerke besuchen und ideologisch korrekte Sprechblasen verfassen; seine wichtigen Werke blieben davon unberührt. Aber von einem gewissen Opportunismus kann ihn der Biograf nicht freisprechen.

Zahlreiche Schriftsteller wurden schikaniert oder auf die berüchtigte Gefängnisinsel Goli otok deportiert; nie hat sich Andrić für die verfolgten Kollegen eingesetzt: „Er liefert niemanden ans Messer, aber er hilft auch niemandem, der ans Messer geliefert wird.“

Heute wird Andrik „Islamophobie“ angekreidet

Martens bettet die Lebensgeschichte kenntnisreich in eine Geschichte Südosteuropas seit dem 19. Jahrhundert ein. Das Bosnien des Ivo Andrić wird so fast zu einem Modell heutiger Kultur- und Religionskonflikte.

Allein im kleinen Višegrad seiner Kindheit gab es drei Moscheen, eine serbisch-orthodoxe Kirche, eine Synagoge und ein katholisches Gebetshaus – vielerlei Gebetsrufe und Glockenschall, Rituale und Feiertage.

[Michael Martens: „Im Brand der Welten. Ivo Andrić. Ein europäisches Leben.“ Zsolnay Verlag, Wien 2019. 496 Seiten, 28 €.]

Ivo Andrić ist einer der Ersten, die eine heute hitzig debattierte Frage auf den Schauplätzen ihrer Erzählungen und Romanen behandelt haben: Passen Europa und der Islam zusammen?

Dass Andrić immer wieder exzessive Grausamkeiten schildert, die von osmanischer Seite begangen wurden (unvergesslich die detaillierte Beschreibung einer Pfählung in „Die Brücke über die Drina“), wird ihm heute von manchen als „Islamophobie“ angekreidet. Richtiger ist wohl, dass Andrić Pessimist ist; er traut Menschen, die Macht haben, das Ärgste zu.

Und in Bosnien hatten nun einmal die Osmanen jahrhundertelang die Macht. Wie später Aleksandar Tišma ist der persönlich eher scheue, ängstliche Ivo Andrić ein Anthropologe, der von der Gewalt fasziniert ist: Was macht sie mit denen, die sie ausüben, und mit denen, die sie erleiden müssen?

Er blieb bis zuletzt seiner Jugoslawien-Utopie treu

Seinen Stil entwickelte Andrić in Abgrenzung von den Formexperimenten und Weltveränderungsprogrammen der Avantgarde. Es ist ein nahezu klassischer Duktus, von schlackenloser Eleganz, der jedoch zum Medium eines modernen psychologischen Erzählens wird.

Seine Figuren haben komplexe Identitäten. Andrić zeigt die Menschen in ihrer Zerrissenheit, in ihren heimlichen Schwächen, Leidenschaften und Lastern, er pflegt die Kunst der Nuance. Der historische Hintergrund ist in seinen Werken nie Selbstzweck, sondern ein Fundus, um zeitlose Fragen zu thematisieren.

Während bei vielen Klassikern des zwanzigsten Jahrhunderts posthume Ruhe eingekehrt ist, wurde Andrić, der bis zuletzt seiner Jugoslawien-Utopie treu blieb (was man ihm eher verzeiht als Peter Handke, weil er bereits 1975 starb), mit den Zerfallskriegen der neunziger Jahre zum Streitfall unter den Nationalisten.

Kroatische Buchhandlungen führten ihn nun in der Abteilung für „ausländische“ Literatur, bosnische Muslime köpften in Višegrad sein Denkmal, Serben vereinnahmten ihn auf geschmacklose Weise. Der feinsinnige Völkermörder Radovan Karadžić ließ an ausländische Diplomaten eine Übersetzung von Andrićs  Erzählung „Brief aus dem Jahr 1920“ verteilen.

Die Erzählerfigur beschreibt darin den Hass der Konfessionen und Nationalitäten im multikulturellen Bosnien. Wer dies als Legitimation für Massaker verstehen wollte, übersah allerdings, dass die Figur, die Bosnien wegen des vermeintlich einzigartigen „Hasses“ verlässt, bald darauf im Spanischen Bürgerkrieg ums Leben kommt.

Es ist eine weitere Stärke dieser Biografie, dass Michael Martens über der „europäischen“ Lebensgeschichte und den vielfältigen historisch-politischen Hintergründen die Romane und Erzählungen nicht zur Nebensache macht. Er geht ihrer Faszination auf den Grund.

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