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Eine Geschichte um einen Romajungen und ein englisches Mädchen - Romeo und Julia im 21. Jahrhundert

© Mixtvision

Jugendroman: Liebe ist ein Aufstand - Romeo und Julia heute

In „Nicu & Jess“ von Sarah Crossan und Brian Conaghan finden ein rumänischer Romajunge und ein englisches Mädchen zueinander

Liebe ist seltsam. Manchmal kommt sie aus heiterem Himmel. Beginnt mit einem Blick, mit einem Wort. Nebenwirkungen: Verwirrung, Tagträume, Schlafstörungen. „Innen und außen / sie sein voll / Schönheit.“ Denkt Nicu über Jess. Er denkt ziemlich oft an sie. „Ich schlafen schlecht letzte Nächten. / Das Plitsch-Platsch-Plitsch / in meine Kopf, / weil ich zu oft / denken an Jess.“ Aber kann man überhaupt zu oft an den denken, in den man verliebt ist?

Nicu ist ein Romajunge aus Rumänien, Jess ein englisches Mädchen, das Schicksal führt sie in London zusammen. Beide sind 15, beide werden zum dritten Mal beim Klauen erwischt. Deshalb begegnen sie einander bei den Sozialstunden, zu denen das Jugendamt sie verdonnert hat. Jess: „Die nennen uns / Abschaum / und / schicken uns in den Park, um uns einen Denkzettel zu verpassen. / Da müssen wir / Müll aufsammeln / und / Müll labern, / dafür bezahlen, / dass wir der Allgemeinheit ja / so / geschadet haben.“

Nicu und Jess, die Helden des Romans, den die irische Schriftstellerin Sarah Crossan und ihr schottischer Kollege Brian Conaghan geschrieben haben, erinnern an Romeo und Julia. Ihre Romanze ist unwahrscheinlich und deshalb unausweichlich. Beide kommen – wie die Tochter des Capulet-Clans und der Montague-Sohn bei Shakespeare – aus extrem verschiedenen Familien, verschiedenen Welten. Jess lebt mit ihrer Mutter, die manchmal von ihrem Freund verprügelt wird, in den White-Trash-Verhältnissen einer Sozialsiedlung. Nicu ist in einem Dorf „ohne Straßen / ohne Licht“ aufgewachsen, am Rande einer Müllhalde, auf der er schon als Kind beim Sortieren helfen musste. Sein Vater hat es zum bescheidenen Wohlstand eines Schrotthändlers gebracht.

Nicu und Jess sind arm und werden es wahrscheinlich auch bleiben. Das Mädchen bringt die Trostlosigkeit seiner Lage auf den Punkt: „Es ist scheißegal, was ich will / oder wie schlau ich bin / oder was für Noten ich bekomme. / Leute wie ich / kommen nie raus / aus Orten / wie diesem.“ Soziologen würden die beiden Jugendlichen wohl dem Milieu der Abgehängten und Deklassierten zurechnen. Aber Elend macht nicht automatisch solidarisch. Es trennt. Jess blickt zunächst hinab auf Nicu, den Jungen mit den schiefen Zähnen, der so schlecht Englisch spricht. „Zigeunerwolfsjunge“ nennt sie ihn, weil er in der „Taugenichtsgruppe“ der Parkaufräumer immer allein bleibt. Doch dann bemerkt sie, dass er ein schönes Gesicht hat und gut zuhören kann.

Furor, Wut und Witz des Rap

„Ach, dass der Liebesgott, trotz seinen Binden, / Zu seinem Ziel stets Pfade weiß zu finden!“, staunt Romeo. Liebe ist möglich, das ist die Botschaft von „Nicu & Jess“. Erzählt wird die Geschichte dieses Paares in Versen, abwechselnd aus ihrer und seiner Perspektive. Mit Shakespeare haben ihre Zeilen, die wie in einem einzigen, nur von Zwischenüberschriften unterbrochenen Langgedicht über die Seiten laufen, allerdings wenig zu tun. In ihnen steckt eher die Wut, der Furor und Witz des Rap.

Wobei Jess die Rolle der Zynikerin zukommt, die mit Präzision und Härte aus ihrem Leben berichtet. Klauen ist ihre Form des Widerstands: „Ich hol das Zeug hin und wieder hervor / und / bin einfach verdammt stolz, wie oft ich damit durchgekommen / bin, / bevor sie mich zum ersten Mal erwischt haben. / Und dann noch mal und noch mal, / bis ich meine eigene Sachbearbeiterin bekommen habe.“ Nicu hingegen hat noch nicht aufgehört zu träumen, er wird schon deshalb zum Poeten, weil er die fremde Sprache, die in „Anglia“ gesprochen wird, kaum beherrscht. Als er mit Jess zum Eislaufen fährt, dem ersten Rendezvous, ist er völlig verzückt: „Jess riecht wie / Sommertag in wunderschöne Garten. / Sie tragen Skinnyjeans, rote Lippen, / schwarze Strichen unter Augen, / Haare wie Girl- Band. Leuten in Bus starren, / weil sie totale / Wow-Anblick.“

„Nicu & Jess“ folgt einem Countdown. Denn Nicu soll in einer arrangierten Hochzeit in Rumänien mit einem Mädchen verheiratet werden, das er nicht einmal kennt. Als Jess und Nicu zueinanderfinden, bleiben ihnen noch 17 Tage. Natürlich wollen sie fliehen, wie Romeo und Julia. Liebe ist ein Aufstand. Es lohnt sich, für sie zu kämpfen.

Sarah Crossan/Brian Conaghan: Nicu & Jess. Aus dem Englischen von Cordula Setsman. Mixtvision Verlag, München 2018. 300 Seiten, 16,90 €. Ab 14 Jahren.

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