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Ein Abschnitt der Berliner Mauer im Caen War Memorial in der Normandie.

© dpa

Jugendbuch über die DDR: Die zerschnittene Stadt

Showdown an der Berliner Mauer: Helen Endemann Jugendroman "Todessstreifen“ erzählt von einer Flucht in der Endphase des Kalten Kriegs

Als Ben aus dem Bahnhof Friedrichstadt tritt, fühlt er sich wie aus der Zeit gefallen. „Es lag etwas Altmodisches in der Luft.“ Am Bahnhofsgebäude hängt ein Plakat mit der Aufschrift: „Für unverbrüchliche Freundschaft mit der Sowjetunion!“ Auf der Straße fahren seltsame Autos, „Modelle, die ich noch nie gesehen hatte“. Sie sind eckig, in Pastell- oder Brauntönen lackiert und erinnern ein wenig an alte Ami-Schlitten, nur viel kleiner. Willkommen in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR.

Helen Endemanns Roman „Todesstreifen“ [Helen Endemann: Todesstreifen. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019. 256 Seiten. 14 €. Ab zwölf Jahren.] spielt 1985, in der Endphase des Kalten Kriegs. Ben ist 15 und ein ziemlich ehrgeiziger, ziemlich erfolgreicher Crossläufer. Zusammen mit anderen Schülern seines West-Berliner Sportinternats ist er zu einem Wettkampf im Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion unterwegs. Zu Ehren der Gäste gibt es Jagdwurst im Eintopf. Man demonstriert Völkerfreundschaft, doch für Ben entwickelt sich die Reise zum Albtraum. Nach einem Trainingslauf wird er von zwei Jugendlichen überwältigt und in eine Gartenlaube verfrachtet. Dort muss er seine Kleidung mit einem Jungen tauschen, der ihm verblüffend ähnlich sieht. Marc, ebenfalls 15, verwandelt sich in Ben und flieht in den Westen.

„Todesstreifen“ spielt gekonnt mit dem Doppelgängermotiv, einem alten Topos der Schauerliteratur, und wird mehr und mehr zum Thriller. Denn keiner glaubt Bens Geschichte, die Entführer können ihr Versprechen, dass der „Spuk“ schon bald vorbei sei und er in sein altes Leben zurückkehren könne, nicht halten. Stattdessen gerät er in die Fänge der Polizei und landet in einem Jugendwerkhof, einer Erziehungseinrichtung, die einer Strafanstalt gleicht. Als Ben protestiert und beteuert, das Opfer einer Verwechslung zu sein, wird er geschlagen und für drei Tage in eine Arrestzelle gesperrt. „Ich bin mir sicher, dass dies das absolut Schlimmste ist, was passieren kann“, glaubt er. Für das, was ihm widerfährt, hatte die Stasi einen eigenen Begriff geprägt: Zersetzung.

Marc ergeht es kaum besser. Weil Ben erst vor Kurzem ins Internat gekommen war, bemerkt nur dessen Zimmergenosse das Täuschungsmanöver, behält das Geheimnis aber erst einmal für sich. Marc hatte bei seinem Vater und seiner Großmutter gelebt; als ihm klar wird, dass er vielleicht nie wieder zu ihnen zurückkehren kann, hat er „so ein Gefühl im Bauch, als würde der Boden unter mir wegbrechen und ich ins Nichts fallen, in ein endloses Universum“. Seine Mutter hatte sich in den Westen abgesetzt, als er ein Baby war. Nun will er sie finden. Dabei kennt er sie nur von einem alten Foto. Vergeblich sucht er ihren Namen in Telefonbüchern, und dass er seine Urgroßtante im Pflegeheim besucht, bringt ihn auch nicht weiter. Sie ist über neunzig und dement.

Manches wirkt überkonstruiert in dieser Geschichte, vieles erscheint unwahrscheinlich. So bleibt Bens Verschwinden nur deshalb unbemerkt, weil seine Eltern als Ärzte für eine Hilfsorganisation in Afrika arbeiten und unerreichbar sind. Und schnell wird klar, dass nicht bloß dieselbe Haarfarbe, dieselbe Größe und dieselbe Form des Gesichts Ben und Marc miteinander verbinden. Aber Endemann, die im lakonischen Krimi-Tonfall erzählt, gelingt es, immer wieder neue Spannung aufzubauen. Der Plot schlägt wilde Haken, alles läuft auf einen Showdown an der Mauer zu.

„Todesstreifen“ handelt von der Klaustrophobie, die bis 1989 in beiden Hälften der von Grenzanlagen zerschnittenen Stadt herrschte. Die beiden Helden sind im Grunde Gefangene, befreien können sie sich nur, wenn sie sich zusammentun. Marc staunt nicht weniger über den Westen als Ben über den Osten. Als er in Neukölln die Karl-Marx-Straße entdeckt, gerät sein Weltbild ins Rutschen. „Der war doch Kommunist. Der Kommunist überhaupt. Ich kann nicht glauben, dass sie im Westen eine Straße nach Marx benannt haben.“ Den Kapitalismus hatte er sich anders vorgestellt.

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